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Der Drahtseilakt

Von Veronika Eschbacher

Politik

Moskau will mit seinem Militäreinsatz in Syrien klarmachen: Wir sind eine Großmacht.


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Moskau/Wien. "Menschen kommen um. Kinder sterben. Und alles, war ihr Westler macht, ist, Geschwafel über Toleranz zu betreiben!", beschwert sich Dmitrij Konstantinow. Der 44-jährige Moskauer hatte sich diese Woche gemeinsam mit seinem 19-jährigen Sohn Ivan live die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin vor der UN-Generalversammlung in New York angesehen, in der dieser auf den Bürgerkrieg in Syrien einging. Und Konstantinow war, wie er sagt, äußerst zufrieden mit dem Auftritt seines Staatsoberhauptes. Vor allem habe ihm Putins Frage an die "Organisatoren" der syrischen Krise gefallen - damit war wohl der Westen gemeint -, ob sie denn überhaupt verstünden, was sie angestellt hätten? Zufrieden ist der Angestellte aber auch mit der am Mittwochmorgen durch den Föderationsrat erteilten Erlaubnis eines russischen Militäreinsatzes in Syrien. "Wenn die Amerikaner nicht mit dem Islamischen Staat fertig werden, dann helfen eben wir", sagt er.

Wenige Stunden nach der offiziellen Erlaubnis des Oberhauses, in Syrien einzugreifen, bestätigte Moskau bereits den ersten Lufteinsatz. Die "Präzisionsangriffe" der russischen Luftwaffe hätten sich gegen militärische Ausrüstung sowie Waffenlager des Islamischen Staats (IS) etwa 200 Kilometer von Damaskus entfernt gerichtet, erklärte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow. Zuvor hatte die Nachrichtenagentur Reuters aus US-Kreisen vom Beginn der russischen Bombardierungen in der Umgebung von Homs erfahren.

Präsident Putin bezeichnete die Intervention in Syrien als "einzigen Weg im Kampf gegen den internationalen Terrorismus". Dieser müsse in den Gebieten bekämpft werden, die die Kämpfer bereits erobert hätten, statt "darauf zu warten, dass sie zu uns kommen". Kreml-Verwaltungschef Sergej Iwanow sagte, die Entscheidung sei nach einem Hilfeersuchen Assads gefallen. Den Einsatz von Bodentruppen schloss er aus.

Machtansprüche bekräftigt

Für den Russland-Experten Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck ist das aktuelle Eingreifen Moskaus kein Schwenk weg von der bisherigen Ausrichtung der russischen Außenpolitik. "Russland bekräftigt damit seinen Anspruch, auch weit außerhalb seines Territoriums Macht ausüben zu können", sagt der Politologe. Der aktuelle russische Kurs in Syrien sei somit lediglich eine Fortsetzung dieser strategischen Linie. Dazu gehöre, deutlich zu machen, dass es der Kreml nicht hinnehmen werde, bei regionalen Konflikten nicht gehört oder übergangen zu werden. "Diese Haltung wird nun beim Syrien-Konflikt ganz deutlich", sagt Mangott.

Freilich habe es in der russischen Syrien-Politik kürzlich Nachjustierungen gegeben, die durch den Konfliktverlauf bedingt seien. Erst schafften der IS und andere Rebellenformationen deutliche Geländegewinne in Syrien. Vor allem der Verlust der Provinz Idlib Ende Juli durch die Regierungstruppen habe die russischen Nachjustierungen ausgelöst, da dadurch die Hafenstadt Latakia - gleichzeitig Ort einer russischen Militärbasis - in Gefahr geraten war. Moskau sei nun bereit, einen Küstenstreifen als Rückzugsgebiet des Präsidenten Bashar al-Assad auch durch aktives militärisches Eingreifen sicherzustellen. "Das Mindeste, was Russland sichern will, ist ein Rest-Syrien, das alawitisches Kernland ist", sagt Mangott.

Kritiker unterstellen dem Kreml mit einem weiteren Konflikt neben der Ukraine von den wirtschaftlichen und sozialen Problemen innerhalb Russlands ablenken zu wollen. Prognosen der Weltbank zufolge wird die russische Wirtschaft heuer um 3,5 Prozent einbrechen, die Reallöhne sinken, die Inflation steigt. "Ein offizieller Militäreinsatz in Syrien ist in der Tat ein relativ mutiger Schritt für den Kreml", sagt Mangott. Man wisse, dass das Afghanistan-Trauma in Russland bis heute nachwirke. Es sei der Öffentlichkeit auch einigermaßen zu erklären, warum man slawischen Brüdern in der Ostukraine helfe - aber ein Einsatz in Syrien?

"Insofern ist das schon ein Drahtseilakt, den Putin hier vollbringen muss", sagt der Politologe. Insgesamt gehe es der russischen Führung in erster Linie darum, der Bevölkerung zu vermitteln: Russland ist eine Großmacht, sie ist im Nahen Osten zurück - und ohne Russland ist keine Lösung möglich.

Manche Beobachter der russischen Außenpolitik schreiben dem vermehrten Eingreifen Moskaus in Syrien auch ein Abflauen des Konflikts in der Ukraine zu. Dort hält die Feuerpause, zudem einigte man sich auf einen Teilabzug von Waffen von der Front. Hier scheint aber noch nicht aller Tage Abend zu sein. "Die russische Politik ist in der Ukraine-Frage etwas flexibler geworden, aber nicht, weil man jetzt freie Hand in Syrien haben möchte", so Mangott. Moskau sei durchaus in der Lage, zwei Konflikte gleichzeitig zu bearbeiten.

Ob es Änderungen in der Ukraine-Politik gibt, wird man laut Mangott wohl erst nach der - den Minsk-2-Vereinbarungen widersprechenden - Abhaltung der Kommunalwahlen in den zwei Rebellengebieten in der Ostukraine Mitte Oktober wissen. "Spricht sich Moskau nicht dagegen aus, stellt es sich klar gegen den Friedensplan von Minsk", sagt Mangott. Dann könne man weiterhin sagen, die Russen wollten einen eingefrorenen Konflikt, mit dem sie die Ukraine jederzeit weiter destabilisieren können, um ihre Westintegration zu torpedieren.

Nicht zuletzt regte kürzlich der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel "angesichts der wichtigen Rolle Russlands in der Syrien-Krise" ein Ende der Sanktionen gegen Russland an. Laut Mangott ist deren Beseitigung sehr wohl ein Ziel der russischen Außenpolitik. Moskau würde aber nicht alles tun, um dieses Ziel zu erreichen. "Die Russen waren sehr überrascht, dass Gabriel so weit geht", so Mangott. Ihnen sei aber klar, dass ohne Erfüllung der Minsk-2-Forderungen "auf Punkt und Beistrich" keine Lockerung oder Aufhebung der Sanktionen möglich sei. "Die Russen wissen, dass sie es nicht billiger bekommen."