Historiker Schlie untersucht, wohin sich die Nato entwickelt. Was bedeutet das für Österreichs Sicherheitspolitik?
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Vom "Hirntod der Nato" hatte der französische Präsident Emmanuel Macron im Jahr 2019 gesprochen. Durch den Ukraine-Krieg wurde das Militärbündnis revitalisiert. Wohin es sich nun entwickeln und welche Auswirkungen das für Österreich haben könnte, untersuchte der deutsche Historiker Ulrich Schlie in einer Studie für das "Europäische Institut für Terrorismusbekämpfung und Konfliktprävention" (EICTP) in Wien.
Schlie war von 2005 bis 2012 Leiter des Planungsstabs und von 2012 bis 2014 politischer Direktor im deutschen Verteidigungsministerium. Seit 2020 ist er Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn. In seiner Studie geht Schlie von vier Grundszenarien und zwei Extremszenarien für die Entwicklung der Nato aus. Den Grundszenarien ist gemein, dass die Einhegung Russlands das vorrangige Ziel der Nato in Europa bleibt. Sie unterscheiden sich einerseits darin, inwieweit die Europäer ihre Verteidigungsbemühungen verstärken. Andererseits darin, wie sehr sich die USA künftig in Europa engagieren.
Europa überlässt USA die Verteidigung
Als wahrscheinlichstes Szenario nimmt Schlie an, dass die USA als Ordnungsmacht in Europa engagiert bleiben, zugleich Divergenzen zwischen den europäischen Staaten anhalten. "Die zentralen innereuropäischen Konflikte, wie das Sicherheitsbedürfnis Osteuropas gegenüber der Zurückhaltung Westeuropas oder die anhaltenden Spannungen der deutsch-französischen Beziehungen, hemmen hier die Weiterentwicklung eines europäischen Sicherheitskonzepts", schreibt Schlie. Die prekäre ökonomische Lage führt zu zurückhaltenden Investitionen in die europäische Verteidigung: "Die Europäer nutzen die Schutzfunktion der USA und investieren in anderen Bereichen."
Die Europäer sind "auf absehbare Zeit auf eine enge sicherheitspolitische Zusammenarbeit" mit den USA im Rahmen der Nato angewiesen. Bemühungen um eine strategische Autonomie der Europäer werden fortgesetzt, können aber keinen Ersatz für die Nato bieten. Konflikte zwischen den EU-Staaten über eine gerechte Lastenverteilung bei der Verteidigungspolitik sind zu erwarten.
Europa und USA teilen die Lasten
Im zweiten Szenario bleiben die USA in Europa engagiert, zugleich erhöhen die Europäer ihre Anstrengungen massiv. Eine "europäisch-amerikanische Lastenteilung" ist die Folge. Schlie hält das für "wünschenswert, aber eher unwahrscheinlich". Es gebe zwar Fortschritte bei der Kooperation zwischen Nato und EU: Am Dienstag unterzeichneten sie eine Vereinbarung, wonach sie sich etwa beim Schutz kritischer Infrastrukturen enger abstimmen wollen.
Allerdings müsste Deutschland "mit seinem noch unterentwickelten strategischen Profil eine neue europäische und geopolitische Verantwortung" annehmen. Gemeinsam mit Frankreich müsste es eine strategische Kultur entwickeln und große Rüstungsprojekte realisieren. Ein "europäisch getragenes Konzept zur territorialen Verteidigung Osteuropas" wäre erforderlich. Ebenso eine aktivere Asienpolitik und amerikanisch-europäische Afrikastrategie. Denn der Mittelmeeraum werde "mit der US-Schwerpunktverlagerung nach Asien-Pazifik noch mehr als bisher zu einer europäischen Aufgabe".
Dass dieses Szenario durch die neuen Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine, darunter die deutsche Lieferung von Schützenpanzern an die Ukraine, realistischer geworden ist, verneint Schlie gegenüber der "Wiener Zeitung". So habe Berlin klargestellt, dass die Lieferungen keine abgestimmte Aktion gewesen sind. Einen konzentrierten, europäischen Durchbruch sieht er nicht.
Rückzug der USA hinterlässt Vakuum
Schlies Hauptsorge ist, dass die EU keine sicherheitspolitische Relevanz entwickelt und so keinen Einfluss auf die Entwicklung der Nato nehmen kann. Ein geringes europäisches Engagement könnte sich vor allem im dritten Szenario, einer isolationistischen Entwicklung der USA, rächen.
Schlie hält das für "möglich, insbesondere bei einer Rückkehr Trumps an die Macht (oder eines sich an ihm orientierenden Kandidaten)". Der Westen hat zwar weiter die Eindämmung Russlands im Blick. Die USA ziehen sich aber aus Europa zurück und "erhöhen innerhalb der Allianz ihre Forderungen an die Europäer nach Erhöhung des Eigenanteils bei der Lastenteilung".
"Die transatlantische Zusammenarbeit wird massiv geschwächt, das Verhältnis zwischen Amerika und Europa gerät auf einen neuen Tiefpunkt", schreibt Schlie. Das Ziel der Europäer, eine größere Autonomie in der Verteidigung zu erreichen, wäre ohne Unterstützung der USA kaum noch realisierbar: "Die notwendigen Kosten, gerade mit Blick auf die ökonomischen Herausforderungen, wären für die meisten europäischen Regierungen zu hoch", schreibt Schlie. Die instabile Sicherheitslage in Europa könnten sich Russland und China zunutze machen.
Rückzug der USA, Europa wird strategisch autonom
Als "sehr unrealistisch" stuft der Historiker daher das vierte Szenario ein - eine strategische Autonomie Europas bei einem gleichzeitig geringen Engagement der USA. Eine europäische Geschlossenheit in Sicherheits- und Verteidigungsfragen sei derzeit nicht vorhanden: "Auf dem Weg zu einer gemeinsamen strategischen Kultur und erst recht einem gemeinsamen europäischen Rüstungsmarkt und Mehrheitsentscheidungen in der Verteidigungspolitik bleibt noch ein utopisch langer Weg zurückzulegen."
Ebenfalls als unwahrscheinlich schätzt Schlie derzeit die beiden Extremszenarien ein - einen militärischen Konflikt zwischen der Nato und Russland beziehungsweise eine Demokratisierung Russlands. Einerseits sei davon auszugehen, dass die Nato alles unternehme, "um eine weitere Eskalation zu vermeiden". Andererseits werde sich bei einem Fall Putins "das Nachfolgeregime strukturell und programmatisch nicht grundsätzlich vom Putinregime unterscheiden, sondern ähnliche geopolitische Ziele verfolgen und ebenfalls mit repressiven Mitteln nach innen regieren".
Höhere Anforderungen an Österreich
Auf Österreich kommen laut Schlie sicherheitspolitisch schwierigere Zeiten zu. Der Druck auf Österreich, mehr für seine Sicherheit zu tun, werde jedenfalls "sicherlich steigen", sagt er. "Österreich hat den Anspruch, eine gestaltende Rolle in der EU zu spielen." Und diese Rolle könne es nicht wahrnehmen, wenn es nicht auch sicherheitspolitische Impulse setze - vor allem in einer Union, "die immer mehr auch auf transatlantische Sicherheit setzt".
Herausfordernd für das Nicht-Nato-Mitglied Österreich sind vor allem die Szenarien, in denen die EU eine strategische Autonomie erlangt oder sich auf den Schutzschirm der USA verlässt. Hier werden Forderungen, dass Österreich einen höheren verteidigungspolitischen Beitrag leistet, stark zunehmen. Planungen des Bundesheers werden sich verstärkt an EU- oder Nato-Vorgaben orientieren müssen - vor allem "die Ausrichtung der Streitkräfte in Fähigkeitsprofil, Umfang und Strukturen", so Schlie.
"Da kommt Österreich massiv unter Druck und wird es auch mit der Neutralitätspolitik sehr schwer haben", sagt EICTP-Analyst und Ex-Bundesheer-Stratege Gustav Gustenau: "Wenn bei einer Lastenteilung alle viel investieren müssen, kann Österreich nicht sagen, es trägt dazu wenig bei."
Er empfiehlt ein größeres Engagement Österreich in der "Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik" der EU. Hier könne Österreich sowohl einen Beitrag leisten, falls es Richtung strategische Autonomie Europas gehe als auch innerhalb der Grenzen der Neutralität eine gewisse Nato-Kompatibilität herstellen, sagt Gustenau.
Notwendige Debatten werden verschlafen
Notwendig sei es für Österreich nun, sich mit seiner eigenen sicherheitspolitischen Ausrichtung und jener der EU zu befassen, mahnt Schlie. Es müsste unter anderem gefragt werden: "Was kann Österreich unter seiner Neutralität noch machen? Wie engagiert es sich in der Partnerschaftspolitik der Nato? Wie wirkt es bei europäischen Aufgaben mit? Wie kann es hier Einfluss nehmen auf die Entwicklung der EU?"
Dazu sehe er in Österreich bisher allerdings keine Debatten, sagt Schlie. Für ihn ist verwunderlich, dass etwa der geplante Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands hierzulande keinen größeren politischen Diskurs ausgelöst hat. Er habe den Eindruck, dass in Österreich viele sicherheitspolitische Fragen "mit dem Hinweis, ein Nato-Beitritt steht ohnehin nicht zur Debatte, abgetan werden", sagt Schlie.