Das Geschiebe um den Brexit im britischen Unterhaus entwickelt sich zum Psychodrama. Die politische und journalistische Elite pendelt zwischen Panikattacke und Nervenzusammenbruch.
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London. Es war einer der bizarrsten Momente einer der bizarrsten Epochen der britischen Fernsehgeschichte. In einer der unzähligen Studio-Diskussionsrunden der BBC zum Brexit saßen der Schriftsteller und Intellektuelle Will Self und der zur europhoben Tory-internen Fraktion ERG (European Research Group) gehörige Parlamentarier Mark Francois. Letzterer hatte gerade mit Verweis auf den mutmaßlich in der Labour Party grassierenden Antisemitismus moralische Überlegenheit demonstriert, als ihm Self die Welt erklärte: "Ihr Problem, Mark, ist, dass man zwar kein Rassist oder Antisemit sein musste, um für den Brexit zu stimmen, aber dass alle Rassisten und Antisemiten im Land es taten."
"Das ist eine Ungeheuerlichkeit. Sie sollten sich entschuldigen!", wütete Francois, "Sagen Sie, dass 17,4 Millionen Menschen Rassisten und bigott sind, weil sie für das Verlassen der EU gestimmt haben?"
Self: "Nein, das habe ich nicht gesagt."
Francois: "Sie sollten sich entschuldigen!"
Self: "Bei wem?"
Francois: "Bei 17,4 Millionen Menschen."
Self: "Bei Rassisten und Antisemiten?"
Das ging ein paar mal so hin und her, aber trotz Vermittlungsversuch der Moderatorin war Francois, immerhin Jurist, nicht imstande, Selfs Mengenlehre zu folgen, und am Ende starrte der Autor ihn bloß mehrere Sekunden an, voll fassungsloser Verachtung über den beschränkten Geist seines Gegenübers. Selbst der in Sachen Brexit um Zurückhaltung bemühte Stephen Fry kommentierte die Konfrontation auf Twitter für seine 12,7 Millionen Follower: "Der derzeit dümmste Mann in der Politik? Es ist ein weites Feld, aber einen falschen Syllogismus so oft zu wiederholen, ohne zu bemerken, dass er das tut. Wow. Furchterregend, dass es diesem Mann namens Mark Francois erlaubt ist, ohne Aufsicht die Straße zu benutzen, geschweige denn in Westminster zu arbeiten."
Ein großer Fehler natürlich, denn ein großer Teil des Publikums wird mit Francois gefühlt haben. Kaum etwas macht die Brexit-Debatte so unversöhnlich wie die - sehr berechtigte - Vermutung der Brexit-Anhänger, alle Remainers hielten sie für dumm.
Wenn man dann auch noch ihre Anführer der Dummheit bezichtigt, was sind dann die, die jenen gefolgt sind, wenn nicht die Allerdümmsten? Nichts ist gefährlicher als der Dummen Rache an den Besserwissern.
Wenn einmal der Stolz verletzt ist, werden alle Warnungen in den Wind geschlagen, und sei es nur, um den Schlaubergern keinen Triumph zu gönnen. Egal wer nun mahnt, sei es der Gouverneur der Bank of England Marc Carney, sei es der Industriellenverband CBI, die Autohersteller, sei es Airbus, die National Farmers Union, seien es Ökonominnen oder Handelsexperten, sie alle werden der großen Verschwörung des Establishments namens "Project Fear" zugeordnet. Und keiner fragt, was zur Hölle eigentlich das gemeinsame Motiv jener mythischen Angstmacher sein sollte, die da alle falsche Androhungen von Fabrikschließungen und Schauergeschichten über Engpässe in der Nahrungs- und Medikamentenversorgung in die Welt setzen. Falls tatsächlich die Macht der offenbar alle Fäden ziehenden EU und der von ihr gekauften Landesverräter dahintersteckte: Wie kommt es, dass just eine Organisation, die die Brexiteers stets als einen von Bürokratie gelähmten, unflexiblen Verband kontinentaler Inkompetenz darstellen, in der Unterjochung, Bestrafung und Verängstigung des britischen Volkes solch ein übermächtiges Geschick entwickelt?
Die nationale Truman Show muss zu Ende gehen
Viele Bücher wurden geschrieben über die Ursachen des Brexit: Die Unfähigkeit der konservativen Partei, ihre internen Ideologiekämpfe zu bändigen, der verantwortungslose Gamble des David Cameron, die Verdrängung eines toxischen englischen Nationalismus, das nie überwundene Trauma des verlorenen Empire, 30 Jahre der Dämonisierung von Brüssel und seiner "Eurokratie", das extreme Ungleichgewicht zwischen London und dem deindustrialisierten Rest des Königreichs. Aber der Schlüssel für den demokratischen Sieg dieser törichten Idee und ihr jämmerliches Scheitern in der Durchführung liegt letztlich in dem nach oben ausgeführten psychologischen Dilemma erklärbaren gesellschaftlichen Zwang zur pathologischen Realitätsverweigerung, einer Art nationaler Truman Show, die jetzt zu Ende gehen muss.
Fast drei Jahre lang wurde so intensiv gelogen und selbstbetrogen, dass nun keiner mehr weiß, wo vorne und hinten ist. Der berühmt-berüchtigte "irische Backstop" zum Beispiel war ein Zugeständnis der EU gegenüber Theresa May anstelle des für sie inakzeptablen, ursprünglichen Backstop, der eine Zollgrenze zwischen der britischen Hauptinsel auf der einen und Nordirland auf der anderen Seite des irischen Meeres vorsah. Und dennoch ist es den Brexit-Hardlinern rund um Jacob Rees-Mogg und Iain Duncan-Smith gelungen, dieses Arrangement zu einer perfiden, von der EU gelegten Falle umzudeuten. Gleichzeitig wird aber - offenbar aus reiner Gewohnheit - immer noch routinemäßig beklagt, jener reformierte Backstop, dessen ganzer Sinn es bei seiner Erfindung im Dezember letzten Jahres war, verschiedene Zollräume in Großbritannien zu vermeiden, würde das Königreich spalten. So überleben Phrasen mit beharrlicher Wiederholung alle sich verändernden Fakten.
Auch die so hartnäckig beschworenen, unverrückbaren roten Linien der Theresa May, denenzufolge alles außer dem Ausstieg aus Zollunion und Binnenmarkt kein richtiger Brexit wäre, stehen in offensichtlichem Widerspruch zur Realitätswahrnehmung des Sommer 2016, als etwa eine Titelgeschichte der "Sun" mutmaßte, die EU habe es hinterhältig darauf abgesehen, Großbritannien aus der Zollunion zu boxen.
Als die Pastorentochter Theresa May sich am Montag vor ihrem letztlich erfolglosen Ausflug nach Straßburg beim Commonwealth Service in die Kathedrale von Westminster stellte, um in mahnendem Ton aus dem Korintherbrief zu lesen, hätte man fast glauben können, es sei die EU, die die Briten rausgeworfen habe: "Jeder von uns ist ein Körperteil (...) Der Fuß kann nicht sagen: Weil ich keine Hand bin, will ich nicht Teil des Körpers sein. Das Ohr kann nicht sagen: Weil ich kein Auge bin, gehöre ich nicht zum Körper." Laut Interpretation des großen Bibelstudienblatts "The Sun" war dieser Aufruf zur Einheit trotz Verschiedenheit in diesem Fall als eine "mit Stacheln versehene Botschaft" an die EU zu verstehen, "dass DIE auch einen guten Brexit-Deal brauchen".
Was war nur aus dem alten Mantra "Sie brauchen uns mehr als wir sie" geworden? Nichts scheint mehr Sinn zu ergeben.
Liam Fox, der Minister für internationalen Handel, der noch 2017 "das leichteste Handelsabkommen der Geschichte" zwischen EU und UK voraussagte, meint heute mit der selben irrwitzigen Siegessicherheit, solche Abkommen würden immer erst im letzten Moment geschlossen.
Brexit-Minister Stephen Barclay stimmte am Donnerstag problemlos gegen einen Antrag der eigenen Regierung, für den er selbst zuvor plädiert hatte. Und vor der Abstimmung über "No Deal" am Mittwoch interviewte ITV den ERG-Borderliner Steve Baker, der sagte: "Es wäre ein wirklich katastrophaler Verhandlungsfehler, No Deal von Tisch zu nehmen", um Sekunden später im selben Gespräch in Bezug auf die Warnungen vor den Auswirkungen eines harten Brexit zu behaupten: "Katastrophe ist ein idiotisches und fahrlässiges Wort, das kein Politiker verwenden sollte."
So viel geballte kognitive Dissonanz hält auf die Dauer keiner aus. Laut Umfragen geben 40 Prozent der in Britannien lebenden Menschen an, der Brexit habe sie psychisch beeinträchtigt, und BRD ist das gängige Kürzel für das mittlerweile anerkannte Syndrom "Brexit-Related Depression." Betroffen sind nicht nur die immer noch in Unsicherheit lebenden 3,5 Millionen EU-Bürger und Menschen, deren Arbeitsplatz auf dem Spiel steht, sondern auch Leute, deren Job es ist, über den allgemein als "shitshow" charakterisierten Brexit-Prozess zu berichten.
John Crace, der ultrasarkastische Parlamentskorrespondent des "Guardian", schreibt inzwischen schon praktisch allwöchentlich offen über die seelischen Schwierigkeiten, die ihm sein Job bereitet, seine Kollegin Hannah Jane Parkinson verfasste für den "New Statesman" eine Glosse mit dem besorgniserregenden Titel "Die Welt fällt in Stücke, und meine geistige Gesundheit auch", und selbst der korrekte Moderatoren-Veteran Jon Snow von Channel Four News verlor am Donnerstagabend endgültig die Nerven, als er den Gesundheitsminister Matt Hancock, einen unfassbarerweise als möglicher May-Nachfolger gehandelten Meister der semantischen Selbstsabotage, interviewen musste: "Secretary of State, Sie wissen besser als ich, dass das Parlament dieses eine Mal tatsächlich das Volk repräsentiert, indem es tief gespalten ist. Niemand in diesem Land weiß, was hier abgeht. Niemand da drin weiß es", wetterte Snow und deutete auf die Houses of Parliament hinter ihm, dann auf Hancocks Brust: "Sie wissen auch nicht, was los ist, sogar innerhalb des Kabinetts. Das Kabinett ist ruderlos, das Land auch. Wir sind eine Lachnummer."
An jenem Abend hatte das Unterhaus sich immerhin einem Teil der Realität gestellt und endlich beschlossen, eine Verlängerung des Artikel-50-Prozesses einzureichen. Allerdings nicht ohne gleichzeitig mit großer Mehrheit (dank des vom Großteil der Labour-Abgeordneten eingehaltenen Beschlusses, sich der Stimme zu enthalten) ein zweites Referendum abzulehnen. Natürlich ist diese Option damit noch lange nicht vom Tisch, schließlich wird auch Theresa May am Dienstag ihren Deal bereits zum dritten Mal zur Abstimmung vorlegen. Aber was dabei schmerzlich offen zutage kam, war die Spaltung innerhalb der Remainers: Zwischen jenen der Labour Party unter der Führung des Brexit-Schattenministers Keir Stamer, der Jeremy Corbyn sachte in Richtung eines zweiten Referendums zu schubsen versucht, und der von abtrünnigen Pro-EU-Zentristen gebildeten Independent Group. Um nicht die kleine Zahl verbleibender Tory-Remainer um den gewieften Taktiker Dominic Grieve zu vergessen. Und natürlich die unabhängige People’s Vote-Kampagne, die versucht zwischen all den obigen zu vermitteln und daher das Votum für ein Zweites Referendum am Donnerstag erst recht nicht unterstützte, weil die Zeit dafür noch nicht gekommen sei. Worauf andere Unterstützer des Zweiten Referendums androhten, nächsten Samstag nicht auf die Londoner Großdemo der People’s-Vote-Kampagne zu gehen. Das wird’s den Brexiteers aber zeigen.
Es gibt nur zwei Auswege aus dem Brexit
Nachdem es zuletzt so aussah, als könnte Arlene Foster, die sture Chefin der nordirischen DUP, sich überreden lassen, kommende Woche doch noch für Theresa Mays Deal zu stimmen, könnte bis dahin ja eh schon alles gelaufen sein. Obwohl wir es aufseiten der ERG mit Leuten wie Francois zu tun haben, der kürzlich erklärte, er könne nicht für Mays Austrittsabkommen stimmen, denn das sei "verlieren, nicht gewinnen", und: "Ich war in der Armee. Ich wurde nicht ausgebildet zu verlieren."
So ist der Zustand des politischen Diskurs im Großbritannien des Jahres 2019, knapp drei Jahre nach David Camerons größter Tollerei. Aber am Ende wird es sich gelohnt haben, denn wir wissen ja, es geht um den geheiligten Willen des Volkes. Laut Umfragen ist eine Mehrheit der Briten gegen eine Verschiebung des Brexit. Weil sie die Nase voll hat.
Tatsächlich gibt es nur zwei Möglichkeiten, die Briten vom Brexit zu erlösen: Dass es dem großen Patrioten Nigel Farage gelänge, andere europäische Regierungen für ein Veto gegen die Verlängerung von Artikel 50 zu gewinnen und das Land in einen "No Deal" zu stürzen. Oder die immer populärer werdende, sauberste Lösung: den ganzen Mist einfach abzublasen ("Revoke Article 50"). Technisch möglich, aber politisch heikel.
Im Grunde ist die Lage ein bisschen so wie das Ende von "Quadrophenia", dem 40 Jahre alten Kino-Film zur Rock-Oper von The Who. Jimmy, der Held, enttäuscht von der Welt, geschmäht von seiner Freundin, macht sich zum ultimativen, toxisch maskulinen Akt der gekränkten Selbstbeschädigung bereit, fährt mit seiner Vespa an den Rand der Klippen von Beachy Head und rattert zum Schrei des künftigen Brexit-Befürworters Roger Daltrey ("I’ve had enough of trying to love") mit vor Tränen zerinnendem Kajalstift um die Augen dem Rand der weißen Kreidefelsen entgegnen. Wir sehen seinen Roller durch die Luft fliegen und unten im Abgrund landen. Es bleibt offen, ob Jimmy den Heldentod gestorben oder doch noch rechtzeitig abgesprungen ist. Dazu gibt es unter Fans zwei unversöhnlich gegensätzliche Auslegungen. Je nachdem, ob man seinen Jimmy lieber tragisch heroisch oder selbst in der Verzweiflung dann doch noch intelligent bevorzugt. "No Deal" oder "Revoke" - das perfekte Sinnbild für den Brexit.
Robert Rotifer ist Musiker, Musikjournalist, Radiomoderator und Journalist, der seit 22 Jahren in Großbritannien lebt und über Großbritannien berichtet.