Der kasachische Senator Ikram Adyrbekow über die Ukraine-Krise, Russland und die Europäische Union.
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"Wiener Zeitung": Wie sieht man die Ukraine-Krise in Kasachstan?Ikram Adyrbekow: Sie ist für die Kasachen sehr schmerzhaft. Denn über Jahrhunderte haben Kasachen, Russen und Ukrainer freundschaftlich zusammengelebt. Auch heute leben in Kasachstan mehr als 100 Ethnien, darunter eine große ukrainische wie russische Diaspora. Die Völker sind historisch eng verbunden, die Wurzeln sind die gleichen. Es ist eine große Tragödie.
Beunruhigt die Ukraine-Krise auch deshalb, weil es möglich scheint, dass auch Ihrem Land ein ähnliches Szenario bevorsteht? So sorgte in Kasachstan, wo ja ein Viertel der Bevölkerung russischstämmig ist, für viel Aufregung, dass der russische Präsident Wladimir Putin ethnische Russen beschützen will. Putin hat Ihrem Land auch die Eigenstaatlichkeit abgesprochen.
Es gibt natürlich Leute, die sich das mit der Eigenstaatlichkeit zu Herzen nehmen. Aber insgesamt sehen wir das unaufgeregt, denn wir kennen ja unsere Geschichte. Im September feiern wir ein sehr wichtiges Ereignis: Vor 550 Jahren wurde das kasachische Khanat gegründet. Wenn jemand sagt, dass die Kasachen keine Eigenstaatlichkeit hatten, dann muss er sich unsere Geschichte ein wenig aufmerksamer ansehen.
Wieso wurden die Präsidentschaftswahlen vorgezogen?
Die Wirtschaftskrise, die von außen über unser Land kam, die Ukraine, Terrorismus, der Islamische Staat - die täglichen Informationen über all diese Krisen führen zu starkem Druck auf die Bevölkerung. Vor allem in einer unruhigen Periode will der einfache Kasache wissen, was morgen mit ihm und seiner Familie sein wird, er möchte Stabilität in der Führung und Berechenbarkeit. Wenn wir jetzt die Präsidentschaftswahl durchführen, dann werden die Menschen das Gefühl haben, dass sie vor möglichen negativen Folgen dieser Unsicherheiten geschützt sind. Wenn der Führer stark ist, dann lässt er keine Krisen wie etwa in der Ukraine zu. Aber auch die Völkerversammlung (diese soll den Dialog zwischen den 130 verschiedenen Ethnien und 45 Konfessionen des Vielvölkerstaates garantieren, Anm.) ist in Kasachstan ein wichtiger Faktor politischer Stabilität.
Ist Stabilität für die Bevölkerung wichtiger als politische Reformen, etwa für mehr Demokratie?
Jeder kann natürlich seine eigenen Vorstellungen darüber haben, was in Kasachstan falsch läuft. Das Land aber entwickelt sich in dieser Stabilität, es blüht auf. Sehen Sie sich Astana an, das ist eine völlig neue, europäische Stadt mit hoher Lebensqualität und ausgezeichneter Sicherheit. Hier in Wien wurde ich selbst Zeuge davon, wie einem Mann die Geldbörse gestohlen wurde vor einem Hotel am Ring. Heute ist die Frage nach Sicherheit eine der wichtigsten.
Seit Anfang Jänner ist die Eurasische Wirtschaftsunion in Kraft. Ist Kasachstan ein Partner auf Augenhöhe mit Russland?
Wenn Sie die Produktionsmengen meinen, natürlich nicht, das russische Bruttoinlandsprodukt ist zehn Mal größer als das kasachische. Aber wir sehen, dass es unsere Produkte es sehr wohl und immer öfter auf den russischen Markt schaffen, auch wenn sie dort Konkurrenz haben. Große Entscheidungen zur Weiterentwicklung der Wirtschaftsunion werden auf Konsensbasis getroffen, jedes Land hat eine Stimme.
Im Jänner paraphierten die EU und Kasachstan ein vertieftes Partnerschafts- und Kooperationsabkommen. Wie eng können sich die Beziehungen zwischen der EU und Kasachstan entwickeln?
Die EU ist unser wichtigster Handelspartner, der Handelsvolumen betrug im Vorjahr mehr als 60 Milliarden Euro. Auch der Großteil der ausländischen Investitionen stammt aus der EU. Wir haben im Vorjahr Visafreiheit für jene zehn europäischen Länder eingeführt, die unsere wichtigsten Investoren sind. Wir hoffen, dass das Abkommen den Grundstein legt für weitere vertiefte Zusammenarbeit in allen Bereichen. Unser Präsident erinnert regelmäßig daran, dass in der Zukunft eine einheitliche Handelszone von Lissabon bis Wladiwostok wünschenswert sei. Ich denke, das ist realisierbar.
Zur Person
Ikram
Adyrbekow,
geboren 1950,
ist Mitglied des kasachischen Senats. Zuvor war er Vizeaußenminister und Botschafter, zuletzt in China.