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Es hätte auch ein Blutbad sein können. Irgendein überforderter Besatzungskommissar, der den Empfehlungen Ceausescus folgen will, und wir wären Zeugen geworden von neuen Schreckensbildern mitten in Europa. Vor 20 Jahren hatten wir jedoch Glück: In Mitteleuropa standen sich die größten Truppenansammlungen der gesamten Menschheitsgeschichte gegenüber. Die Menschen hatten dabei aber auch stets vor Augen die erfolgreichen Marktwirtschaften beim kapitalistischen Klassenfeind, zu beobachten im Westfernsehen über den Todesstreifen zur DDR hinweg, oder aus eigener Erfahrung von Reisenden aus Ungarn, aus Polen oder den Balkanstaaten.
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Die globale Großwetterlage bescherte uns statt nordkoreanischer Lösungen einen Gorbatschow, der die deutsche Karte ins Spiel brachte. Die US-Administration deckte die zögernde Regierung in Bonn, die Ungarn schnitten kurzerhand den Eisernen Vorhang an der Grenze zu Österreich auf.
Die Bilder, in denen ein westlicher Außenminister mit seinem realsozialistischen Amtskollegen den Stacheldraht zerschneidet, gingen in die Geschichtsbücher ein und machten Alois Mock und Gyula Horn zu Weltstars. Die DDR rann buchstäblich aus, indem nun ihre Bürger über Ungarn nach Österreich in die Freiheit konnten, am 9. November fiel in Berlin der "Antifaschistische Schutzwall", wie die Todesmauer im Regime-Jargon zu benennen war.
Der Rest ist eine Erfolgsgeschichte: Unabhängigkeit der mitteleuropäischen und baltischen Länder, Abzug der sowjetischen Truppen, Nato-Beitritt und Aussöhnung mit Russland in den neuen Kooperationsformen, dann der EU-Beitritt. Überschattet wird diese Entwicklung nur durch die Blutbäder am Balkan, einschließlich des Massenmordes in Srebrenica mitten in einem UNO-Schutzgebiet.
Nächste Woche jedoch bestimmt die Nato ihren neuen Generalsekretär, traditionellerweise nicht aus den USA, damit ein Gegengewicht zum militärischen Oberkommandierenden gehalten wird. Favorit ist Anders Fogh Rasmussen aus Dänemark, enger Verbündeter der bisherigen Bush-Administration. Weitere ernsthafte Kandidaten kommen von klassischen Verbündeten der USA, vor allem aus Polen, aus Kanada und aus Norwegen.
In Frage kommt aber diesmal auch der bulgarische Außenminister, oder sogar ein Nachbar, Imre Sekres, der ungarische Verteidigungsminister. Dessen Profil ist, wie bei allen anderen auch, außenpolitische Professionalität. Sollte sich die Nato für den Ungarn entscheiden, so wäre auch symbolisch das Werk von zwei Jahrzehnten abgeschlossen: Sekres war enger Mitarbeiter von Gyula Horn, jenem realsozialistischen Minister, der sich seinerzeit mit der Drahtschere an den Eisernen Vorhang wagte . . .
Rüdiger Stix war Obmann der ordoliberalen Dissidentenfraktion im Wiener Rathaus und lehrt Sicherheitsökonomie in Budapest und Wien.