Schwarz-Gelb-Grün unwahrscheinlichste Variante. | Setzt Schröder als letzten Ausweg auf Neuwahlen? | Berlin. Wie man aus einem Minus von zweieinhalb Millionen Wählern (= 4,3 Prozent) und fast 30 Bundestagsmandaten weniger sowie dem Rangverlust als stärkste Fraktion einen politischen Führungsanspruch ableiten will, wie das Gerhard Schröder am Sonntagabend in der "Elefantenrunde" getan hatte, ist selbst gutwilligen Beobachtern unklar und raubte nicht nur Angela Merkel den Atem.
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Vor drei Jahren betrug der Stimmenvorsprung der SPD genau 6.027. Das reichte dem Bundespräsidenten Rau, Schröder mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Was sollte den Bundespräsidenten Köhler daran hindern, dieses Mal Merkel den Auftrag zu erteilen, deren Union einen Vorsprung von mehr als 1,1 Millionen vor der SPD hat?
Im Gegensatz zu Äußerungen Schröders und seines SPD-Generals Benneter ist der Bundespräsident in dieser Frage völlig frei. Dass die SPD - blendet man die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU aus - formal gesehen tatsächlich wieder stärkste Partei geworden ist, das ist nur für jene ein Trost, die aus Angst (vor dem Machtverlust) im Walde laut vor sich hinpfeifen.
Nur große Koalition verspricht Stabilität
Fakt ist, dass es weder zu einer Fortsetzung von Rot-Grün noch zu einem Wechsel nach Schwarz-Gelb gereicht hat. Fakt ist weiters, dass nur eine stabile Mehrheit eine sofortige Neuwahl verhindern könnte (wenn man es denn wollte). Und Fakt ist schließlich, dass dies, wenn überhaupt, nur eine Große Koalition bringen könnte.
Jedenfalls nach der Papierform. Doch trotz gegenteiliger Beteuerungen - man müsse rasch handeln, man müsse Deutschland einen erneuten Wahlkampf ersparen und man müsse aus dem Wählerwillen das Beste machen - trotz dieser "Fensterreden" sind die Taktiker der Macht, die Mathematiker des parteipolitischen Kalküls, bereits eifrig an allerlei "zweitbesten" Lösungen.
Die Union muss zunächst einmal gezielt die Grünen hofieren und massieren. Nicht so sehr, um sie am Ende ins Boot zu nehmen (zwischen dem Grünen Joschka Fischer und dem Liberalen Wolfgang Gerhardt wäre das Gerangel um das Außenamt programmiert), sondern vielmehr, um die SPD etwas demütiger zu machen. Den Braten haben Schröder und Müntefering natürlich längst gerochen. Es wird daher von der Standfestigkeit des Noch-Vizekanzlers Joschka Fischer abhängen, ob Schröders Machtanspruch mehr ist als bloßes Wunschdenken.
Jamaica-Koalition unwahrscheinlich
Eine Schwarz-Gelb-Grüne "Schwampel" (auch Jamaika-Koalition, wegen der dortigen Landesfarben, genannt) würde Schröders Kalkül durchkreuzen, möglicherweise nachhaltig die SPD von der Macht aussperren. Denn sollte dieses Modell überhaupt denkbar sein und dann noch ein bisschen "über den Durst" anhalten, dann würde die SPD als gemäßigte Linke à la longue unnötig und könnte auch nicht die PDS wegdrücken.
Diese Variante würde die politische Landschaft in Deutschland tiefgreifend verändern. Noch übersteigt sie das Vorstellungsvermögen, vor allem der Grünen selbst und nicht zuletzt der FDP. Sie ist somit auch die unwahrscheinlichste.
Die Ampel unter SPD-Führung hingegen wäre auf den ersten Blick wahrscheinlicher und politisch-inhaltlich weniger gewöhnungsbedürftig. Parteitaktisch jedoch vor allem für die FDP eine böse Zwickmühle, die ja soeben gelernt hat, dass die Nibelungentreue zur Union ein wahrer Jungbrunnen und eine großartige Bluttransfusion sein kann.
Schröders "krawalliges" Auftreten (so Doris über ihren Mann) in der TV-Diskussion der Parteispitzen nach geschlagener Schlacht sollte eine Drohkulisse aufbauen. Wahlergebnis hin oder her! Wenn es eine Große Koalition gibt, dann unter meiner Führung und nicht unter Frau Merkel. Die SPD werde keine Kanzlerin Merkel wählen. Punktum. Spätestens hier war klar, dass man keine Argumente braucht, wenn man die Macht um jeden Preis will. Die Auguren sagen: Schröder muss sich der Grünen absolut sicher sein, um ein solches Szenario aufzubauen.
Zwar wäre - aus staatspolitischer Räson - die Große Koalition die einzig vernünftige Lösung, doch hätte sie zwei entscheidende Nachteile: Bei annähernd gleichstarken Partnern (die Union liegt um nicht einmal ein Prozent voran) setzt sich für gewöhnlich nur der Kleinste Gemeinsame Nenner durch. Das könnte den Schwung aus allen Reformen herausnehmen.
Berührungspunkte wären vorhanden
Andererseits hat die abgelaufene Legislaturperiode gezeigt, dass die Schnittmenge zwischen den Großparteien keineswegs Null sein muss: Steuer-, Renten- und Arbeitsmarktreformen wurden zum Teil gemeinsam beschlossen. Der größere Nachteil liegt in einem Nährboden für Extreme, denn eine Regierungsmehrheit von fast 70 Prozent schafft Vakuen an den Rändern des politischen Spektrums.
Immer noch steckt der SPD der Schock der "68er" in den Knochen. Die damalige Große Koalition hatte dazu beigetragen, dass sich die APO, außerparlamentarische Opposition bildete, die Stammzelle der Grünen, deren Heranwachsen die SPD strukturell über Jahre hinaus von der Mehrheit wegtrieb. Mit einer erstarkten, bundesweit agierenden Linken aus PDS und WASG im Nacken würde der politische Spielraum der SPD immer enger werden. Geschicklichkeit vorausgesetzt, könnte die SPD die Rolle als Juniorpartner zwar auch nutzen, um sich als große, soziale Volkspartei zu rehabilitieren; ein Nimbus, der durch "Genosse der Bosse", Brioni-Träger und Hartz-IV-Erfinder Schröder verloren ging. Derzeit scheint aber die Angst vor der PDS zu dominieren.
Eine Variante, die derzeit noch heftigst dementiert wird, bekommt immer mehr Chancen: Die (vorläufige) Duldung eines rot-grünen Minderheitskabinetts durch die neue Linkspartei. Diese Lösung wäre zwar keineswegs elegant und auch für Gerhard Schröder eine ziemliche Zumutung. Aber der Job des Bundeskanzlers wäre einen Canossagang nach Saarlouis vielleicht schon wert.
Viel wahrscheinlicher jedoch ist, dass es zu dieser Variante nicht kommen muss; es würde schon genügen, wenn sie als einzige Option übrig bliebe. Dann könnten Schröder oder Müntefering nämlich argumentieren, dass ihnen nur die Wahl zwischen dem Teufel Lafontaine und dem Beelzebub Neuwahlen geblieben sei - und sie sich deshalb "im Interesse des Landes" für zweiteres entscheiden müssten.
Auch das Scheitern einer Großen Koalition könnte die Absprungbasis für Neuwahlen bilden. Hier hat allerdings Angela Merkel zunächst einmal die besseren Karten, denn immerhin sitzt sie der stärksten Fraktion des Bundestages vor. Schröders Linie, er habe gegenüber der Demoskopie gewonnen, wird sich nicht lang über den gestrigen Überraschungsmoment hinaus halten lassen. Und wer will schon schuld an Neuwahlen aus reiner Willkür sein?
Übrigens kann an dieser Ausgangslage das Nachwahlergebnis aus Dresden I am 2. Oktober nur optisch, nicht faktisch etwas ändern. Fazit: So spannend der Wahlkampfverlauf, so spannend der Wahlabend, so spannend wird auch der Weg zur Regierungsbildung werden. Findet ein Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers auch in drei Wahlgängen keine Mehrheit, dann muss der Bundespräsident gemäß Artikel 63 des deutschen Grundgesetzes den Bundestag auflösen und Neuwahlen ausschreiben.
Mag sein, dass Gerhard Schröder darauf setzt, weil er hofft, der Aufwärtstrend, die Aufholjagd der letzten Wochen würde ihn auch über diese zweite Hürde hieven. Dafür müsste er allerdings ein Szenario schaffen, das ihn unentbehrlich erscheinen lässt, das ohne den Buhmann Kirchhof auskommt und das glaubhaft macht, er habe ja alles andere redlich versucht. Mit seinem Brachial-Schuhplattler im Porzellanladen hat sich der Elefant nicht gerade die besten Schienen dafür gelegt.
Dossier: Bundestagswahl 2005