Zum Hauptinhalt springen

Der emotionale Kollaps

Von Christian Mayr

Kommentare

Die Brasilianer wollten mit Brechstangen-Fußball à la 20. Jahrhundert den Sieg erzwingen - und sind dann psychisch zerfallen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Es war allen alles zu viel - die riesengroße Blase, die sich über dem brasilianischen Team in den vergangenen Monaten gebildet hatte, ist am Dienstag an einem historischen Abend in Belo Horizonte brutal über den Köpfen der Spieler zerplatzt. Wenn es eine Erklärung für das 1:7-Debakel des Gastgebers gegen Deutschland gibt, dann nur eine psychologische. Frühestens mit dem 0:2 in Minute 23, spätestens mit dem 0:3 eine Minute später hatte sich der große Traum der Seleção vom WM-Titel im eigenen Land in Luft aufgelöst gehabt. In dieser Phase des Spiels kollabierte die Mannschaft des fünffachen Weltmeisters vor den Augen der verdutzten Weltöffentlichkeit - emotional wie körperlich. Die Treffer vier und fünf in weiteren drei Horrorminuten aus brasilianischer Sicht waren die logische Folge, zumal das deutsche Team nicht daran dachte, den zerfallenden (einstigen) Fußball-Giganten in irgendeiner Weise zu schonen. Jeder Schuss ein Treffer - und zwar ins Herz des fußballverrückten 195-Millionen-Einwohner-Landes. Wie konnte es so weit kommen? Rekapitulieren wir die wichtigsten Fakten: Ein Team, das vor zwei Jahren nur noch um Rang 20 (!) der Fifa-Weltrangliste herumgrundelte und mehr eine Ansammlung aus Einzelkönnern war, wurde zum Titelgewinn verdammt; erst recht nach starken Auftritten bei der siegreichen Generalprobe im Confed-Cup; wie selbstverständlich drängte dann auch noch Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari die Seinen vor WM-Anpfiff in die Favoritenrolle; zum Drüberstreuen musste die Seleção noch das Nationaltrauma von 1950, den verabsäumten Titel bei der Heim-WM, auslöschen, weshalb man das Maracanã-Stadion bloß ein Mal betreten wollte - zum Finalsieg; dann hingen auch noch soziale Unruhen wie ein Damoklesschwert über der Mannschaft, falls sie früh im Turnier scheitern würde. Wie dieser Druck den Spielern zusetzte, war schon an den verstörend wirkenden Tränen vor dem Elferschießen im Achtelfinale gegen Chile und generell beim Hymnen-Absingen abzulesen. Dass man dann gegen Deutschland auch noch für den verletzten und an allen Ecken und Enden fehlenden Superstar Neymar gewinnen musste, setzte dem ganzen Psycho-Zirkus die Krone auf. Dieser unmenschlichen Situation versuchte das Team auf dem Platz mit überbordender Emotionalität zu entfliehen, weshalb es in den ersten zehn Minuten wie aufgezogen über den Platz jagte. Es konnte ja nichts passieren, immerhin standen nicht nur 57.000 Fans im Mineirão hinter einem, sondern das ganze, große Land, den Schöpfer natürlich nicht zu vergessen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte der erste Eckball zum 1:0 geführt ... Die Deutschen indes reagierten richtig auf diesen ungeordneten Brechstangen-Kick aus dem vorigen Jahrhundert und spielten den aufgescheuchten Hühnerhaufen mit nüchterner Präzision aus. Früher mag für Heimteams eine solche kampfwütige Einstellung zum Erfolg geführt haben, mittlerweile lässt sich mit Herz und Motivation alleine kein Blumentopf mehr gewinnen. Sonst würde man Spieler ja nur noch zum Mentaltraining schicken, statt sie taktisch zu schulen und ihnen vor jedem Spiel "Eye of the Tiger" mit 100Dezibel vorspielen. Und der ÖFB würde Hans Krankl reaktivieren, um alle so richtig heiß auf das Match zu machen. Wollen und Können sind jedoch zwei Paar Fußballschuhe. Und Müssen macht alles viel schwieriger.