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Der Erforscher des Welthandels

Von Gerhard Strejcek

Wissen

Vor sechzig Jahren starb der österreichische Ökonom Josef Hellauer, dessen wissenschaftliche Arbeiten zu den Pionierleistungen der Betriebswirtschaftslehre gezählt werden.


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Josef Hellauer (1871-1956), um 1930/35.
© Aus einer Festschrift zu Hellauers 65. Geburtstag, Frankf. a. M. 1936 / WU

Im November 1916 entstand in Berlin eine neue wirtschaftliche Ausbildungsschiene in Form von berufsbegleitenden Kursen, zu deren Eröffnung man den österreichischen Wirtschaftsexperten Josef Hellauer einlud. Der seit 1912 in Berlin tätige Ökonom hielt einen Vortrag zum Thema "Weltwirtschaftliche Forschung vom privatwirtschaftlichen Standpunkt", auch ein Institut für Privatwirtschaft sollte neu etabliert werden.<p>Die "Privatwirtschaft" steht in einem System, das auf freies Eigentum und Erwerbsfreiheit aufbaut, im Gegensatz zur verstaatlichten Wirtschaft. Und genau dieser Aspekt war für Hellauers lebenslanges Schaffen von zentraler Bedeutung. Ihn interessierte das gesamte Spektrum, welches ein exportorientierter Kaufmann beherrschen sollte: Unternehmensgründung, Rechts- und Vertragswesen, Transport und Versicherung der Handelsware, Kostenrechnung, Buchhaltung und Bilanzierung, um nur einige der Aspekte zu nennen, die in Hellauers berühmtem "System der Welthandelslehre" in zahlreichen Auflagen von 1910 bis 1956 enthalten waren.<p>

Internationaler Blick

<p>Ausgangspunkt für Hellauers Studien waren englische Kontrakte und Versicherungen im Seehandel um 1900. Zehn Jahre später hatte er alle relevanten Aspekte des internationalen Warenhandels inkludiert. Sein "System" konnte sich fünf Jahrzehnte lang bis in das Nachkriegsdeutschland und in die Zweite Republik als Standardlehrbuch halten. Diese Leistung wurde von wissenschaftshistorischer Seite erkannt, wie Darstellungen des ehemaligen WU-Rektors, Alois Brusatti, zeigen. Auch Josef Mugler, langjähriger Vorstand des Instituts für das Management der Klein- und Mittelbetriebe (KMU), würdigt Hellauers Verdienste, dessen Schüler, wie z.B. Willy Bouffier, in Wien wirkten.<p>Somit hat Hellauer in Deutschland wie in Österreich Zeichen und Wegmarken gesetzt. Dennoch ist der vor sechzig Jahren, am
5. Dezember 1956 verstorbene Mitbegründer der Betriebswirtschaftslehre als eigenständiger Disziplin in seiner Heimat nur in Fachkreisen bekannt. Keine Straße und kein Platz trägt den Namen des langjährigen Ordinarius an der Exportakademie. Diese Ehre erwies die Stadt Wien nur Erich Loitlsberger, dem Jahrzehnte später in Frankfurt und an der Wiener Universität tätigen Betriebswirtschaftslehrer.<p>Hellauer weist dagegen einen eigenen Eintrag in Gablers Wirtschaftslexikon auf, die Relevanz seiner Arbeiten für die Wirtschaftswissenschaften ist unbestritten. Schon mit seinem eingangs zitierten Vortrag vor rund hundert Jahren legte er den Finger in eine schwelende Wunde. Bis heute beklagen Handel und Gewerbe mit Recht, dass ihnen der Staat Hürden aufbaut, statt kleinere und mittlere Betriebe zu fördern. Eine inadäquate Finanz- und Handelspolitik treibt eine Vielzahl von Unternehmen in den
Ruin. Grund dafür war und ist nicht zuletzt die Bürokratie, die darin gipfelt, dass sogar Taxifahrer (!) eine Registrierkasse mitführen müssen, womit der Staat die unternehmerische Freiheit grundlos und nachhaltig einschränkt.<p>Hellauer erkannte bereits mitten im Ersten Weltkrieg, dass die Zentralmächte drauf und dran waren, ihr eigenes ökonomisches Hauptstandbein zu amputieren. Die Verfügbarkeit von Handelswaren bestand nur auf dem Papier, im Rohstoff- und Lebensmittelsektor waren diese rationiert und ein breites Spektrum von Waren wie Fett, Textilien, Buntmetalle und sogar Kaffee staatlich bewirtschaftet. Der einst blühende Verkehrssektor drohte abzusterben, der private Konsum war kriegsbedingt zum Erliegen gekommen.<p>Beim überhasteten Rückzug aus Galizien hatten die österreichischen Eisenbahnen fast ein Drittel ihrer noch brauchbaren Personenwaggons eingebüßt. Die fehlenden Lokomotiven wurden nicht nachgeliefert, der Ersatz des in allen Dampfmaschinen betriebswichtigen Kupfers durch Eisen minderte die Leistung beträchtlich. Eine private Bahnfahrt von Feldkirch nach Wien dauerte 18 Stunden. Landwirtschaftliche Produkte und Ernten konnten nicht mehr in Bahnwaggons transportiert werden.<p>Ab 1916 stieg in den von der Landwirtschaft abgeschnittenen Regionen, darunter auch Wien, die Gefahr einer Hungersnot, in Ungarn wurde das lebensnotwendige Getreide an Schweine verfüttert, während die Lieferungen nach Wien abbrachen. In Zahlen bedeutete die Reduktion der transleithanischen Getreidelieferungen nicht etwa eine Halbierung, sondern einen Rückgang auf ein Zwanzigstel des Volumens in Friedenszeiten (von 2,2 Millionen Tonnen auf knapp über 100.000). Eine Förderung privatwirtschaftlicher Initiative tat daher Not.<p>

k.u.k. Handelspolitik

<p>Der Protagonist dieser Initiative, Josef Hellauer, wurde 1871 in Wien geboren und besuchte die Handelsakademie in Wien-Wieden, wo er auch die Lehramtsprüfung absolvierte. Später wechselte er nach Linz, ehe er an die Exportakademie im k.k. Handelsmuseum berufen wurde. Schon in der HAK wurde sein lebenslang währendes Interesse an Handels-, Vertrags- und Verkehrswesen geweckt. Die k.u.k. Monarchie wies eine schwache Außenhandelsbilanz auf und konnte mit Seemächten wie dem Vereinigten Königreich oder den Niederlanden nicht mithalten.<p>"Welthandel" war daher ein programmatischer Begriff, die Habsburger Monarchie beäugte neiderfüllt den Aufstieg, den das Deutsche Reich mit Hilfe von Handelsniederlassungen und dem Aufbau einer Flotte genommen hatte. Dieses erkannte Defizit begünstigte die Gründung neuer Ausbildungsstätten und Initiativen, an denen sich die Handels- und Gewerbekammer beteiligte.<p>Hier wirkten Angehörige bekannter Familien maßgeblich mit. Im k.k. Handelsmuseum war der Vater des berühmten Marketingexperten Peter Drucker tätig; der Autor des "Engels mit der Posaune" und spätere Regisseur, Ernst Lothar, widmete sich im k.k. Handelsministerium dem Ausbau einer wirtschaftsnahen Ausbildung.<p>Neben anderen ehemaligen Lehrern wie dem Exportakademiedirektor Anton Schmid nahm Josef Hellauer auch hier eine Pionierrolle ein. Nach Absolvierung der Handelsakademie bestand Hellauer nach einer vierjährigen Lehre als Bankkaufmann die Lehramtsprüfung für höhere Schulen 1894 und begann sogleich an der Handelsakademie Linz zu unterrichten. Damals waren die Türen für engagierte Lehrer offen, in den tertiären Bildungssektor vorzustoßen, wie auch die Karriere von Robert Musils Vater zeigte, der nach einigen Jahren in Steyr in Brünn an der Technischen Hochschule lehrte.<p>Hellauers Forschungstätigkeit begann 1897, als er gleichfalls in der mährischen Hauptstadt Brünn an der Handelsakademie lehrte. Die erste monographische Studie aus diesem Jahr behandelte "Die Preisparitäten des Warenhandels und die internationale Spekula-
tion". Der Autor promovierte an der Universität Greifswald, seine Dissertation trug den auch für Juristen und Kriminologen interessanten Titel "Der Wucher - ein aktives Kreditverbrechen". Im Druck erschien diese Studie im Jahr 1898 in Linz im Verlag Mareis.<p>Diese Arbeiten und Zeitschriftenartikel, welche Hellauer verfasste, förderten seine Berufung an die 1898 gegründete Export-Akademie im k.k. Handelsmu-seum, die Vorläuferin der heutigen WU. Hellauers Aufstieg dokumentierte auch die gleichzeitige Ernennung zum Dozenten an der Konsularakademie Wien. 1912 folgte er dem Ruf an die Handelshochschule Berlin und 1921 einem weiteren Ruf an die Universität Frankfurt am Main. 1931 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Handelshochschule Berlin und 1936 der Hochschule für Welthandel, die damals noch nicht allzu lange das Promotionsrecht erworben hatte und einen ihrer Pioniere ehren wollte.<p>Mit 65 Jahren, also 1936, trat Hellauer in den Ruhestand, doch mit seiner Emeritierung beendete er noch lange nicht seine publizistische Laufbahn. Am 1. Juni 1956 verlieh ihm die Goethe-Universität in Frankfurt die Ehrendoktorwürde. Im selben Jahr erhielt er auch die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main, wo er dann 1956 auch verstarb.<p>Hellauers Werke dienten der besseren regionalen Erfassung der Handelsplätze. Im Jahr 1921 erschienen zwei "weltwirtschaftliche" Sammelbände über China und über Argentinien. Beide Werke folgten einem ähnlichen Konzept und zeichneten Vorträge auf, welche Praktiker und Wissenschafter an den Handelshochschulen vorgetragen hatten. Der in Stuttgart tätige Max Wertheimer rezensierte den China-Band gemeinsam mit einem zweiten Werk eines Juristen namens F. W. Mohr über die Region, den er als "Insider" anerkannte.<p>Denn der Autor der "Gedanken zur neudeutschen Chinapolitik" hatte in japanischer Gefangenschaft gedarbt und in dieser Lage das Buch über die - auch auf Grundlage der Mentalität und psychologischer Faktoren - gebotene Handelspolitik in China verfasst. Die durch Kauf oder Pacht erworbenen chinesischen Handelsdrehscheiben gingen im Ersten Weltkrieg verloren und führten auch zum Kriegseintritt der Japaner auf Seiten der Entente. "Wer sich gut unterrichten will, findet in diesem Mohrschen Buch alles was er braucht, viel disziplinierter und organischer entwickelt als in dem Hellauerschen", lautete das gestrenge Werturteil des Rezensenten im (Kieler) Archiv für Weltwirtschaft (Bd. 19/1923, 119).<p>

Theorie und Forschung

<p>Zu dieser Zeit hatte die BWL vielfach deskriptiven Charakter; zudem wurden die Fähigkeiten, welche eine Handelshochschule zu vermitteln hatte, mehr als praxisrelevante Ausbildung denn als akademische Fundierung angesehen. Über die Vertiefung in der Theorie und die Frage forschungsgeleiteter Lehre gingen die Meinungen auseinander. Die Wiener Exportakademie sollte die "praktische Seite des kommerziellen Könnens pflegen und nicht vielleicht theoretisch gebildete Leute heranerziehen, die man erst dann in die praktische Schule nehmen müsste", so lautete die engstirnige Meinung eines Zeitgenossen.<p>Hellauer ist es mit zu verdanken, dass diese Sichtweise zu Gunsten einer forschungsgeleiteten Lehre aller Wirtschaftsdisziplinen überwunden wurde.

Literatur:

Alois Brusatti: 100 Jahre im Dienst der Wirtschaft. Ueberreuter, Wien 1998.
Josef Mugler: Geschichte des Instituts für das Management der KMU. www.wu.ac.at/Institute
Gerhard Strejcek: Wirtschaft, Welthandel und Recht, New Academic Press (NAP), erscheint dieser Tage.

Gerhard Strejcek, geboren 1963 in Wien, Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.