In einer bisher einzigartigen Aktion will die Brüsseler Kommission den Rechtsbestand der EU überprüfen und vereinfachen. Gleichzeitig sollen neue Gesetzesinitiativen einer kritischen Folgenabschätzung unterzogen werden. Brüssel will damit die Wettbewerbsfähigkeit der EU erhöhen.
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In ihrer Mitteilung vom 16. März 2005 "Bessere Rechtsetzung für Wachstum und Arbeitsplätze in der EU" [KOM(2005) 97] kündigte die Europäische Kommission einen Gangwechsel an, um mit einem neuen legislativen Ansatz zu gewährleisten, dass gemeinschaftsrechtliche Vorschriften von hoher Qualität die Zielsetzung der Partnerschaft für Wachstum und Beschäftigung untermauern, so wie dies in der "Lissaboner Strategie" des Europäischen Rates vom März 2000 niedergelegt wurde. Neben einem Vereinfachungsprogramm für die Legistik plant die Kommission aber auch, dass neue Rechtsetzungsmaßnahmen nunmehr einer verpflichtenden Folgenabschätzung unterzogen werden müssen.
Für den "Altbestand" an Rechtsetzungsinitiativen leitete die Kommission erstmalig ein Verfahren zur "Überprüfung von Vorschlägen, die sich derzeit im Gesetzgebungsverfahren befinden, ein, dessen Ergebnisse sie am 27. September veröffentlichte [KOM(2005) 462]. Im Einzelnen sollten die noch nicht verabschiedeten Vorschläge in dreifacher Hinsicht auf ihre Haltbarkeit getestet werden: (a) zum einen sollten sie auf ihre Vereinbarkeit mit der "Lissaboner Strategie" überprüft werden; (b) zum anderen sollte eruiert werden, wie lange sie bereits bei den Rechtsetzungsorganen Rat und Europäisches Parlament (EP) ohne deren Beschlussfassung unerledigt lagen und letztlich (c) sollten sie auch einer angemessenen Folgenabschätzung unterzogen werden.
Als diese Überprüfung von der Kommission im April 2005 in Angriff genommen wurde, befanden sich insgesamt 489 Vorschläge der Kommission - die Kommission legt im Jahr im Schnitt zwischen 200 bis 250 Rechtssetzungsinitiativen vor - im Prozess der Rechtsetzung. Da sich die Überprüfung ausdrücklich auf noch nicht verabschiedete Vorschläge aus der Zeit vor dem 1. Januar 2004 beschränkte, waren davon letztlich 183 Vorschläge zu überprüfen. In diesem Zusammenhang plant die Kommission insgesamt 68 Vorschläge gänzlich zurückzuziehen bzw. 5 Vorschläge nur unter der Bedingung aufrechtzuerhalten, dass dem Rat und dem EP weitere Analysen über die wirtschaftlichen Folgekosten derselben vorgelegt werden. Damit wird die Kommission in insgesamt 73 schwebenden Rechtsetzungsverfahren intervenieren.
Diese bisher in ihrer Art einmalige Überprüfung von "Gesetzesinitiativen" der Kommission - die Kommission hat auch schon in der Vergangenheit, allerdings unsystematisch, Vorschläge zurückgezogen - wird unterschiedlich kommentiert. Die Kommission selbst spricht von einem großen Erfolg dieser Überprüfung, die die Wettbewerbsfähigkeit verbessern und dadurch die Verwirklichung der Ziele der "Lissaboner Strategie" erleichtern soll. Des weiteren wird sie zur Schaffung eines besseren Regelungsumfeldes beitragen und die Aussonderung obsoleter Vorschläge ermöglichen.
Im Gegensatz dazu gibt es auch kritische Stimmen, die darauf hinweisen, dass bei diesem "Herbstputz" in der EU der "Bürokratie-Berg kreißte, aber nur eine Maus geboren habe" (NNZ Nr. 226). Zahlreiche Rücknahmen beträfen nur solche Vorschläge, die mit dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten obsolet geworden sind oder die keine politische Chance auf Verwirklichung haben.
Waldemar Hummer ist Universitätsprofessor für Völker- und Europarecht am Institut für Völkerrecht, Europarecht und Internationale Beziehungen der Universität Innsbruck.