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Der europäische Wirtschaftsmotor stottert

Von Marcell Göttert

Gastkommentare
Marcell Göttert ist Ökonom bei der Agenda Austria und dort zuständig für den Bereich Öffentliche Finanzen.
© Elke Mayr

Von einem Kontinent, der auszieht, das Wachstum wiederzufinden.


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Wir müssen reden. Europa, die Wiege der industriellen Revolution und des damit verbundenen Wirtschaftswachstums, hat ein Problem. Ja, 3,3 Prozent Wachstum in der Europäischen Union im Jahr 2022 nach 5,4 Prozent im Jahr 2021 - das hört sich zunächst einmal recht positiv an. Zwei so starke Jahre hintereinander hatte die EU seit ihrem Bestehen noch nie.

Doch war da nicht etwas vor zwei Jahren? Richtig, im Zuge der Corona-Krise ist unsere Wirtschaftsleistung massiv gesunken. Trotz des guten Vorjahres betrug das Wachstum in der EU seit dem Jahr 2019 gerade einmal um die 2,7 Prozent. Besonders schwach entwickelten sich die wirtschaftlichen Schwergewichte Frankreich, Italien und Deutschland. Das in der Inflationsbekämpfung fälschlicherweise idealisierte Spanien hat seit 2019 sogar Einbußen erlitten. Andere Weltregionen entwickelten sich deutlich stärker. Die USA konnten zum Beispiel gegenüber 2019 um einiges stärker zulegen als die EU. Von den großen weltweiten Wachstumsregionen China und Indien ganz zu schweigen.

Russlands Krieg gegen die Ukraine war eine der Wachstumsbremsen, mit denen wir in Europa in den vergangenen Jahren konfrontiert wurden - von den grauenvollen humanitären Folgen dieses Krieges einmal ganz abgesehen. Doch selbst ohne den Krieg in der Ukraine wäre Europa vor große Herausforderungen gestellt. Wie soll es mit dem europäischen Industriestandort im Zuge der grünen Transformation weitergehen?

Man muss aber gar nicht erst so weit denken. Der Standort Europa steht heute schon vor veritablen Problemen. Stichwort Arbeitskräftemangel: Derzeit gibt jedes vierte Industrieunternehmen an, dass seine Produktion durch einen Mangel an Arbeitskräften behindert wird. Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer präsentierte vor kurzem eine Studie, laut der sich in Österreich bis zum Jahr 2040 eine Lücke von rund 363.000 Arbeitskräften auftun dürfte.

Die politische Diskussion scheint von diesem Problem völlig losgelöst zu sein. Beinahe wöchentlich liest man von neuen Vorschlägen, die Arbeitszeit in Österreich zu reduzieren. Das mag für einzelne Unternehmen attraktiv sein, um neue Angestellte zu finden. Doch den Branchen insgesamt wird damit ein Bärendienst erwiesen. Wir müssten uns wieder Gedanken darüber machen, wie in Österreich und im Rest Europas mehr Arbeitsstunden geleistet werden könnten statt weniger.

In nur zwei anderen Ländern der EU muss ein Durchschnittsverdiener mehr von jedem erwirtschafteten Euro an den Fiskus abtreten. Durch eine Abgabensenkung könnte das Arbeiten in Österreich und im Rest Europas wieder attraktiver gemacht werden. Doch auch darüber hinaus sollte es keine Denkverbote geben. Wie können wir beispielsweise arbeitswilligen und arbeitsfähigen Pensionisten die Möglichkeit geben, weiterhin am Wirtschaftsleben teilzunehmen, ohne dass sie über Gebühr besteuert werden? Nicht nur der Staat, sondern auch die Unternehmen müssen ihr Verhalten ändern. So sind Arbeitnehmer auch jenseits der 55 Jahre wertvolle Arbeitskräfte mit einem Schatz an Erfahrung, der genutzt werden sollte. So könnte ein Grundstein für das Wachstum der kommenden Jahrzehnte gelegt werden.