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Der ewige Zwist

Von Gerhard Lechner

Politik
© Illustration: Peter M. Hoffmann

"Die Russen? Die gibt es doch gar nicht!", erklärt Jaroslaw. Zwei Geschichtsbilder im Widerstreit.


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Wien/Lemberg. Es war im Herbst 2012. Das Treiben im westukrainischen Lemberg wirkte nicht allzu geschäftig. Obwohl der Wahlkampf für die Parlamentswahlen in seiner Endphase war, schienen die Menschen den politischen Trubel allenfalls als störend wahrzunehmen. Die Hoffnungen auf einen fundamentalen Wandel im Staat durch Wahlen hatten sich im Land von Präsident Wiktor Janukowitsch bereits verflüchtigt. Die Enttäuschung nach der gescheiterten Orangen Revolution hatte im prowestlichen Teil des Landes tiefe Spuren hinterlassen.

Im Vorfeld der Wahlen 2012 hatten hier, in Ostgalizien, nationalistische Kräfte die Oberhand gewonnen. Die Partei Swoboda steuerte zumindest im Westen des Landes auf einen Wahlsieg zu. Die Zentrale der Partei nahm sich dennoch bescheiden aus: Sie liegt in einer Seitengasse, fast versteckt, kein Schild führt zum Büro der Bewegung des Lemberger Arztes Oleh Tjahnybok. Selbst die Tür ist nicht beschildert. Einzig ein paar Aufkleber mit dem Konterfei Tjahnyboks weisen auf den Zweck der Räumlichkeit hin. Neben der Tür finden sich auch Aufkleber der Art "SS-Division Galizien - Unsere Helden". Oder ein deutscher Reichsadler der NS-Zeit mit dem ukrainischen Dreizack statt dem Hakenkreuz in den Fängen auf der rot-schwarzen Flagge der ukrainischen Aufstandsarmee aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Heute benutzt sie unter anderem auch der rechtsextreme "Pravy Sektor".

"Die Russen - keine Slawen und keine Europäer"

Das Büro selbst wirkt friedlich und nur wenig martialisch. Junge Frauen fertigen Transparente für die nächste Demonstration gegen den autoritären Präsidenten an. Ein älterer weißhaariger Ukrainer, Jaroslaw heißt er, beginnt zu reden. Über sein Lieblingsthema: die Ukraine, die ukrainische Geschichte und - natürlich - über die Russen. Es ist das Lieblingsthema so ziemlich aller ukrainischen Nationalisten. Im Osten Europas ist man geschichtsverliebt.

"Die Russen? Die gibt es doch gar nicht!", klärt Jaroslaw auf. "Sie haben uns unseren Namen gestohlen! Sie haben uns unsere Geschichte gestohlen! Da, schau", sagt Jaroslaw und weist auf ein Buch hin. "Die Russen - keine Slawen und keine Europäer" steht da zu lesen. Jaroslaw kopiert gleich einige Seiten. Er zeigt auf ein Bild, den Kopf von Andrei Bogoljubski. Der war Fürst von Wladimir-Susdal, Herrscher zweier heute recht verschlafener Städte im Waldgebiet östlich von Moskau. Bogoljubski hatte im Jahr 1169 Kiew erobert, geplündert und zerstört. Sein Vater Juri Dolgoruki ist als Gründer Moskaus in die Geschichte eingegangen. Andrij weist auch auf dessen Bild hin: "Siehst Du?" Die Büste Dolgorukis zeigte einen leicht asiatisch anmutenden Kopf mit Schlitzaugen. "Das Gerede von der slawischen Brüderlichkeit, das aus Moskau kommt, ist eine Lüge. Die Russen sind gar keine Slawen, sondern eine Mischung aus Finnen, Tataren und Mongolen! Und ,Russen‘ heißen sie überhaupt erst seit der Eroberung der Ukraine, also jenes Gebiets um Kiew, das im Mittelalter als Rus’ in die Geschichte einging. Vor dieser ,russischen‘ Expansion hatte man nur vom Großfürstentum Moskau gesprochen, erst nach der Eingliederung der Ukraine durch Peter dem Großen vom Russischen Reich."

Das Klagelied von der verlorenen ukrainischen Herrlichkeit singt nicht nur Andrij. Auch Wolodymyr Ohrysko, der mondän wirkende, strikt prowestliche Außenminister unter Ex-Präsident Wiktor Juschtschenko, hatte sich bei einer Podiumsdiskussion in Wien vor einem Jahr bitter über die kulturlosen russischen Zaren beklagt, die die ukrainischen Bildungsanstalten geschlossen und die ukrainische Kultur vernichtet hätten. Ohryskos Schlussfolgerung: Von Russland hat die Ukraine nichts zu erwarten, die "slawische Brüderlichkeit" gebe es nicht. Die Zukunft für die Ukraine liegt in Europa.

"Kiew ist die Mutter der russischen Städte"

Eine Haltung, die man in Moskau so gar nicht nachvollziehen kann: Russland pocht auf sein Konzept der "Russki Mir", der orthodoxen russischen Welt, die Russen, Weißrussen und Ukrainer miteinschließt. Nicht nur der Machtapparat aus Sowjetzeiten, auch Dissidenten wie der verstorbene Schriftsteller Alexander Solschenizyn vertraten die Vision eines gemeinsamen geschichtlichen Weges von Ukrainern, Weißrussen und Russen. Als der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow 1954 die Krim, die vorher Teil der russischen Sowjetrepublik war, der Ukraine zuschlug, geschah dies aus Anlass der 300-jährigen "Wiedervereinigung" Russlands mit der Ukraine. "Wir sind nicht nur Nachbarn, wir sind ein Volk. Kiew ist die Mutter der russischen Städte. Wir werden nicht ohne einander leben können", sagte der russische Präsident Wladimir Putin kürzlich bei seiner Rede zur Eingliederung der Krim - und umriss damit auch gleich in aller Kürze das russische Geschichtsbild: Wie die Ukrainer, so sehen auch die Russen in der Kiewer Rus’, jenem recht kurzlebigen Großreich aus dem 10. Jahrhundert, die Wiege ihrer Geschichte. In Kiew, das in Moskau als "unser Jerusalem" bezeichnet wird, fand unter Wladimir dem Heiligen die Bekehrung der ostslawischen Rus’ zum orthodoxen Christentum statt, hier erreichte die Rus’ eine dem Westen mindestens ebenbürtige kulturelle Blüte. Sie erstreckte sich von Kiew bis Nowgorod, von Galizien bis östlich von Moskau, ehe sie unter Erbstreitigkeiten und Mongoleneinfällen zerfiel. Nach russischer Lesart war es Moskau, das Kiews Zepter übernahm und nach den Bedrohungen, die aus Ost und West kamen, unter einer starken Zarenmacht die verstreute "russische Erde" erneut sammelte und ans Goldene Zeitalter des alten Kiew anknüpfte.

Für nationalbewusste Ukrainer ist diese Interpretation schon lange fragwürdig. Man setzt der Vision vom starken russischen Staat die eigenen Kosakenmythen entgegen - Erzählungen von unerschrockenen, mutigen und vor allem freien Kämpfern ohne staatlichen Rückhalt und mit vage demokratischen Ideen. Inmitten des jetzigen Konflikts knüpften die Maidan-Kämpfer erneut an die alten Mythen an - und nahmen damit auch den alten Zwist mit Moskau wieder auf.