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Der Faktor Zehn

Von Ralf Beste

Gastkommentare
Ralf Beste ist seit September 2019 deutscher Botschafter in Österreich. Davor war der studierte Historiker als Journalist tätig, unter anderem für die "Berliner Zeitung" und den "Spiegel".
© Deutsche Botschaft Wien

Vielleicht sollten wir Deutsche die wichtigste Faustregel der Österreicher für Vergleiche importieren.


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Zu den spannendsten Lernerfahrungen eines Botschafters gehört der Blick aus der Ferne nach Hause. So muss sich das für einen Astronauten anfühlen, wenn er aus der Raumkapsel plötzlich den Blauen Planeten in seiner ganzen Pracht im Sonnenlicht erblickt.

Ganz so weit weg, aber auch ganz so schön ist Deutschland natürlich nicht. Aber immerhin weiß ich jetzt, dass Deutschland so viele Einwohner hat wie der Iran oder die Türkei, jedoch nur ein Viertel der Bevölkerung der USA. Unsere Wirtschaftskraft ist etwa so groß wie jene von Spanien und Frankreich zusammen, und unser Nettobeitrag zum EU-Haushalt ist doppelt so groß wie derjenige der "Sparsamen Vier" zusammen.

Warum ich das alles weiß? Gute Frage. Nicht alle diese Informationen, die ich mir ergoogelt habe, sind wirklich nützlich. Aber wenn man als Deutscher nach Österreich kommt, dann lernt man unweigerlich das Vergleichen. Denn das tun die Österreicher, so mein Eindruck, gerne. Die wichtigste Faustregel für den Vergleich, die ich hier gelernt habe, ist der Faktor Zehn. Deutschland hat zehnmal so viele Einwohner wie Österreich und ein zehnmal so hohes Bruttoinlandsprodukt. (Eigentlich wäre der Faktor Neun wohl passender, aber ich will nicht pedantisch wirken.) Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht einen Vergleich mit dem Faktor Zehn lese oder höre. Die Auflage der Zeitung? Der Umfang des Corona-Rettungspakets? Die Zahl der Todesopfer? Mal zehn, dann sieht man, ob man besser oder schlechter dasteht als in Deutschland.

Ich habe nach ähnlichen Faustregeln für Deutschland recherchiert, wie oben beschrieben. Und ich habe viele deutsche Freunde gefragt, ob sie das wussten oder ob wir das auch machen. Um es kurz zu machen: Ich bin nicht fündig geworden. Die Deutschen sind, wenn es ums Vergleichen geht, ein bisschen faul.

Ist das nun gut oder schlecht? Natürlich könnte man den Österreichern vorwerfen, dass sie sich ständig am großen Nachbarn messen. Leider könnte man den Spieß aber auch nur allzu leicht umdrehen: Zwar sagen wir nicht mehr leichtfertig: "Deutschland über alles." Aber dass wir nicht einmal wissen, wie und mit wem wir uns vergleichen könnten, offenbart doch eine recht selbstgenügsame Weltsicht. Für die Österreicher scheint der Vergleich mit Deutschland dagegen eine Selbstverständlichkeit zu sein. Und er dient auch nicht unbedingt dem Wettbewerb, sondern der Orientierung. Vielleicht sollten wir Deutsche die Faustregel importieren. Mir jedenfalls nützt sie.