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Die Kreml-Astrologen haben wieder Hochsaison wie zu schlechtesten Sowjet-Zeiten. Jüngster Anlassfall ist der zweite Schuldspruch gegen den früheren Öl-Magnaten Michail Chodorkowski. Premier Wladimir Putin hatte die Verurteilung schon vorab gefordert, Präsident Dmitri Medwedew hatte dies sanft kritisiert: "Weder der Präsident noch irgendein anderer Staatsbediensteter hat das Recht, seine Meinung zu diesem oder anderen Fällen zu äußern, bevor das Urteil gefällt ist."
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Prompt wurde von manchen Kommentatoren auf einen verdeckten Machtkampf zwischen Medwedew und Putin geschlossen. Diese Diskussion gibt es, seit Putin nach zwei Amtsperioden 2008 nicht mehr als Präsident kandidieren durfte und den höchsten Posten des Landes Medwedew überließ. Seitdem fiel der neue Mann immer wieder dadurch auf, dass er einzelne Aspekte des unter Putin aufgebauten Herrschaftssystems kritisierte.
So stellte er - pikant im Hinblick auf das Chodorkowski-Urteil - wiederholt die russische Justiz wegen Willfährigkeit gegenüber den Machthabern an den Pranger. Immer wieder machte er die allgegenwärtige Korruption als Haupthindernis für die Modernisierung zum Thema - zuletzt am Beispiel des von ihm entlassenen Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow. Luschkows Nachfolger wurde allerdings ein enger Putin-Vertrauter.
Auch sonst blieben Medwedews Modernisierungsreden ohne nachhaltige Folgen. Im Gegenteil: Der von Putin eingeschlagene autoritäre Kurs wurde weiter verfolgt. Die Gesetze zu Meinungsfreiheit und Wahlen wurden verschärft, Demonstrationen von Regierungskritikern auseinandergejagt, und auch die Korruption wächst weiter.
Den scheinbaren Widerspruch erläuterte der verurteilte Chodorkowski heuer einmal so: Zwar versuche Medwedew, das System zu reformieren, die Selbständigkeit des Präsidenten sei allerdings durch seine völlige Loyalität zu Putin begrenzt.
Dabei geht es allerdings nicht nur um persönliche Verbundenheit: Während der Ex-Geheimdienstchef Putin enge Vertraute an allen Schaltstellen des riesigen Landes platziert und sein System der gegenseitigen Abhängigkeiten perfektioniert hat, fehlt Medwedew eine vergleichbare Machtbasis völlig.
Eine offenbare Durchsetzungsschwäche wie im Fall Chodorkowski erleichtert es auch nicht, in der Bevölkerung Vertrauen aufzubauen. Der Präsident hat somit allen Grund, mit einer Erklärung zu zögern, ob er 2012 bei den nächsten Wahlen kandidieren will. Bisher hat er lediglich erklärt, nicht gegen Putin antreten zu wollen, falls dieser die Rückkehr an die Staatsspitze anstreben sollte. Dann hätten jene recht behalten, die in Medwedew von vornherein nur einen Platzhalter für Putin sahen. Putin selbst hat sich zu seinen Plänen nicht geäußert. Viel Raum für die Kreml-Auguren also für weitere Spekulationen.