Zum Hauptinhalt springen

Der fast unbemerkte Crash im Asylwesen

Von Simon Rosner

Politik

Die Zahl der Asylanträge steigt und die Verteilung der Flüchtlinge auf die Bundesländer funktioniert nicht.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ende August meldete das Land Niederösterreich einen größeren Corona-Cluster mit 29 Fällen im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen. Es ist das größte Flüchtlingslager des Landes. Der Cluster hält bis heute an, zwischenzeitlich wuchs er mehrfach auf über 100 Personen an, in der Vorwoche waren es 68 Covid-Fälle. Bekommen die Behörden das nicht in den Griff? Antwort aus dem zuständigen Gesundheitsressort des Landes Niederösterreich: Es handle sich nicht um einen Cluster, sondern es seien vor allem Neuankömmlinge, die infiziert seien, und in den vergangenen Wochen sei die Zahl der Asylwerber deutlich gestiegen.

Das Innenministerium aktualisiert die Asyldaten einmal monatlich, die jüngsten stammen aus August. Und tatsächlich ist ein signifikanter Anstieg zu bemerken. Im Juni gab es erstmals seit Jahren wieder mehr als 2.000 Asylanträge in einem Monat, im Juli waren es bereits über 3.000, im August 4.758 - so viele wie schon seit Februar 2016 nicht mehr. "Wir sind bereits auf dem Niveau von 2014. Es gab heuer schon rund 30.000 Aufgriffe", sagt Gerald Tatzgern vom Bundeskriminalamt. Er leitet dort seit fast zwei Jahrzehnten die Stelle zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität.

Aus den Statistiken des Innenministeriums geht hervor, dass mehr als die Hälfte der Anträge von Personen aus Syrien und aus Afghanistan gestellt werden. Die Machtübernahme der Taliban spiele hier aber keine Rolle, sagt Tatzgern. Es handle sich um Menschen, die schon vor etlicher Zeit auf dem Weg in ihre Zielländer (vor allem Deutschland, Österreich, Schweden, Belgien und die Niederlande) am Balkan oder in Griechenland gestrandet seien. "Sie wollen dort keinen weiteren Winter verbringen. Daher machen sich immer mehr auf die Reise."

Die Lebensbedingungen für Flüchtlinge sind am Balkan desaströs. Es gibt keine funktionierenden Asylsysteme, kaum Unterkünfte, zu Weihnachten brannte ein Flüchtlingslager in Bosnien nahe der kroatischen Grenze ab, vermutlich nach Brandstiftung. Auch in anderen Landesteilen und in Serbien sind Tausende geflüchtete Menschen obdachlos. Dass sich unter diesen Bedingungen, und dann auch auf der Reise, eng zusammengepfercht und versteckt in Lastwägen, das Virus gut verbreitet, ist logisch.

Brigadier Tatzgern berichtet von 120.000 Geflüchteten, die sich in dieser Region aufgehalten haben, mittlerweile seien es zwischen 55.000 und 60.000. Etwa die Hälfte zog also weiter. Manche versuchen, über Kroatien und dann Italien in Richtung Schweiz, Frankreich und Großbritannien zu gelangen, andere probieren über osteuropäische Länder, darunter auch über Belarus, in westeuropäische Länder zu reisen. Da wie dort werden die Flüchtlinge häufig zum Spielball politischer Interessen.

Aus Sicht Österreichs ist Ungarn eine besondere Herausforderung. Die direkte Grenze bedingt, dass viele Geflüchtete diese Route wählen. Das Bundeskriminalamt schätzt, dass etwa 80 Prozent, die in Österreich einen Asylantrag stellen, über Ungarn eingereist sind. Die Landespolizeidirektion Burgenland hat in diesem Jahr auch bereits 11.800 geflüchtete Personen aufgegriffen. Deutlich weniger gelangen über Slowenien ins Land, und wer über die Brenner-Route nach Tirol einreist, will in der Regel direkt nach Deutschland oder in andere Zielländer.

Die besondere Rolle des östlichen Nachbarn wird auch durch zwei Zahlen deutlich. Ungarn registriert nämlich einerseits viele Aufgriffe von Geflüchteten, 70.000 allein in diesem Jahr, wie Tatzgern berichtet, doch weniger als 50 von ihnen stellten in Ungarn einen Asylantrag. Das ist Ergebnis eines seit Jahren andauernden Katz- und Maus-Spiels zwischen Viktor Orbán und der EU.

Völkerrechtliche Verträge und EU-Gesetze hindern Ungarn daran, sich der Aufnahme von Asylwerbern grundsätzlich zu verweigern, es ist der Regierung Orbán aber dennoch gelungen, zu verhindern, dass Flüchtlinge in Ungarn bleiben - durch Abschreckung, durch später als EU-rechtswidrig erkannte Transitlager, durch Pushbacks, also die Zurückschiebung von Flüchtlingen an der Grenze. Auch das ist illegal und eine Menschenrechtsverletzung, ficht aber die ungarische Regierung wenig.

Österreich sorgt sich wegen Ungarn - und kooperiert

"Die Frage ist, wie man mit Ländern in Europa umgeht, die nicht kooperieren", sagt Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination, einer NGO, die sich der Vernetzung von Organisationen und oft kleinen Initiativen im zerklüfteten Flüchtlingswesen in Österreich widmet. Auf diese Frage antwortet das offizielle Österreich auf der einen Seite mit Akzeptanz der Realitäten. Das heißt, anders als im EU-Asylsystem ("Dublin III") eigentlich vorgesehen, werden aktuell keine Geflüchtete nach Ungarn zurückgeschickt, die in Österreich einen Antrag stellen, obwohl sie bereits in Ungarn registriert wurden. Eigentlich wäre in solchen Fällen Ungarn zuständig, doch nach einigen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sieht man in Österreich davon ab.

Auf der anderen Seite kooperiert man aber auch mit Ungarn. Österreichische Polizisten bestreifen gemeinsam mit ungarischen die Grenzzone, und sie werden auch bald an der serbischen Grenze die Kollegen aus Ungarn unterstützen. Doch was dann? Die Transitzentren, in denen früher die Flüchtlinge rechtswidrig eingesperrt wurden, sind geschlossen. Die Wahrscheinlichkeit, dass aufgegriffene Personen ein paar Wochen später dennoch in Österreich landen, ist hoch. Gerade deshalb hat das Innenministerium Sorge, dass bei einer größeren Fluchtbewegung sehr viele Personen auf einmal an der Grenze zu Österreich stehen könnten und die Behörden dort, wie 2015, vor eine de facto alternativlose Situation stellen.

Dass die Zahl der Anträge in Österreich heuer gestiegen ist, hat auch ein wenig mit wirksamerer Arbeit an der Grenze zu tun. Seit einiger Zeit kommen Drohnen mit Wärmebildkameras zum Einsatz, das erhöht die Effektivität. Dabei wollen nicht alle Aufgegriffenen in Österreich bleiben, sondern eigentlich weiter nach Deutschland, Schweden oder Holland. Sie durchzuwinken, sei keine Option, sagt Tatzgern. Sehr wohl passiert es aber, dass sich im Zuge ihres Verfahrens Asylwerber absetzen und weiterziehen. Manchmal werden sie als "Dublin-III-Fälle" wieder zurückgeschickt, aber nicht immer. "Es ist ein großer, ineffizienter Verschiebebahnhof und häufig ein Nullsummenspiel", sagt Gahleitner-Gertz.

Aber nicht nur die EU kann dysfunktionales Asylsystem, auch Österreich kann das. Wenn die Antragszahlen steigen, bricht das System schnell zusammen. Seit vielen Jahren. Denn der Bund ist für die Betreuung der Flüchtlinge nur am Beginn des Verfahrens zuständig, mehr als 3.000 Personen sind derzeit in einer von 17 Bundesbetreuungen untergebracht. Mehr als die Hälfte aber sollte eigentlich schon in der sogenannten Grundversorgung sein, die greift, wenn eine Zulassung zum Asylverfahren bejaht wurde. Dann sind die Bundesländer zuständig.

Bundesländer bei Schaffung von Quartieren säumig

Dafür gibt es seit Jahren eine Quotenregelung, je nach Einwohnerzahl. Doch diese Quote wird kaum wo erfüllt. Wieder einmal. Früher hat das hitzige öffentliche Debatten ausgelöst, diesmal geschieht es fast unbemerkt. Schlusslicht ist Vorarlberg mit nur 67,5 Prozent, Kärnten liegt bei 92,6 Prozent, Wien bei 179,1 Prozent, betreut also weit mehr Flüchtlinge als eigentlich vorgesehen. Das ist seit Jahren so. Wien und Kärnten wollen aber keine weiteren Flüchtlinge übernehmen, bis die anderen Bundesländer ihre Quote erfüllen. Die wohlbekannten Spiele sind eröffnet.

In Niederösterreich hat Landesrat Gottfried Waldhäusl (FPÖ) einen Übernahmestopp wegen der Corona-Fälle in Traiskirchen angekündigt. Er fordert ein Treffen der Landesreferenten mit dem Innenministerium, weil dieses angeblich seine Anfragen nicht beantwortet. Das Ministerium dementiert dies. Auch andere Bundesländer wünschen sich ein solches Treffen, allerdings aus anderen Gründen. Es geht ums Geld.

Für die Betreuung von Asylwerbern erhalten Anbieter von Unterkünften einen Tagsatz, der wurde aber seit fünf Jahren nicht mehr valorisiert. Vorarlberg weist etwa daraufhin, dass Wohnraum teurer als in anderen Landesteilen sei, entsprechend schwierig gestalte sich die Suche nach neuen Quartieren. "Wir suchen auf Hochtouren", heißt es vom Land. Ohne neue Quartiere keine Erfüllung der Quote, und ohne Erfüllung der Quote staut es sich in den Bundeseinrichtungen. Was gerade angesichts der Pandemie noch einmal problematischer ist. Immerhin, am Montag waren in Traiskirchen nur mehr 47 Personen mit Covid infiziert.