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Der Feind in meinem Staat

Von Sofia Khomenko

Politik

Blogger und Held der Mittelklasse - Nawalny ist dem Kreml ein Dorn im Auge.


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Moskau. Die letzten Worte sind gesprochen, die Standpunkte dargelegt - im umstrittenen Prozess rund um den russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny heißt es jetzt nur noch auf das Urteil warten. Heute Mittag soll es verkündet werden. Die Staatsanwaltschaft fordert sechs Jahre Lagerhaft wegen Veruntreuung von Staatseigentum. Nawalny wird vorgeworfen, als Berater des Gouverneurs der Stadt Kirov 10.000 Kubikmeter Holz unterschlagen zu haben und damit die Regionalregierung um umgerechnet rund 400.000 Euro geprellt zu haben.

Der Angeklagte selbst verliert seit Beginn des Prozesses vor drei Monaten kaum ein Wort über die eigentliche Anklageschrift. Die Postings auf seinem populären Blog drehen sich vor allem um seinen Antritt bei der Moskauer Bürgermeisterwahl, die im September stattfinden wird. Am Mittwoch gab die Wahlkommission bekannt, dass Nawalny zur Bürgermeisterwahl antreten darf. Ermöglicht wurde das unter anderem dadurch, dass Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin - um Chancengleichheit zu demonstrieren - dazu aufgerufen hatte, Nawalny beim Sammeln der notwendigen Stimmen für die Registrierung zu unterstützen. Sobjanin gilt vor allem wegen der Unterstützung durch die Kremlpartei Geeintes Russland als Favorit. Laut Umfragen des Levada-Zentrums würden ihn 78 Prozent wählen. Nawalny liegt an zweiter Stelle, allerdings mit acht Prozent weit abgeschlagen.

Sollte der 37-Jährige jedoch wie von der Staatsanwaltschaft gefordert zu sechs Jahren Haft verurteilt werden, könnte er weder bei den Bürgermeisterwahlen noch bei den Präsidentschaftswahlen 2018 kandidieren. Laut Levada würden ihn zwar derzeit weniger als ein Prozent als Präsident wählen, dennoch gilt er derzeit als einziger wahrer Oppositioneller und möglicher Gegner von Präsident Wladimir Putin.

Denn von den altbekannten Gesichtern in der Politik erwartet sich die Bevölkerung nichts mehr. Der Kommunist Gennadi Sjuganow ist Vorsitzender einer Partei, die von Nostalgie lebt und deren Wähler langsam aussterben. Wladimir Schirinowski tritt zwar aggressiv auf, verhält sich aber stets der Regierung gegenüber loyal. Bei einigen Parteien, etwa bei "Gerechte Sache", wurde in Russland gemunkelt, sie seien von Putin installiert worden, um Protestwähler abzufangen. Die einzige richtige politische Opposition fand sich bisher in einigen wenigen Medien und nicht in Form von politischen Parteien.

Ohne politisches Programm

Auch Nawalny ist kein Politiker im klassischen Sinne, er ist Blogger. Bekannt geworden ist Nawalny durch seine kritische Recherchen über die dubiosen Geschäftspraktiken russischer Großkonzerne, die sich teilweise in Staatsbesitz befinden. Mit der Zeit etablierte sich der charismatische Nawalny als Anführer einer neuen Generation, einer Generation von jungen, im Internet aktiven Russen, die Veränderung und Partizipation wollen und die ihren Online-Protest auch auf die Straße tragen. Er ist ein Symbol des Machtfaktors Internet, der in den letzten Jahren immer größer wird.

Nach einer politischen Linie, geschweige denn nach einem Parteiprogramm, sucht man vergeblich auf Nawalnys Blog. Er hat weder ein Rezept, wie er gegen die hohen Preise in Moskau vorgehen will, noch schreibt er, wie er die Armut bekämpfen oder das Alkoholproblem lösen würde.

Die Schuldigen für diese Probleme hat er aber schon gefunden. Es seien dieselben Kräfte im Kreml, die ihn aus politischen Gründen auf die Anklagebank gebracht haben. Sein Schlusswort beim Prozess nutzte er als Bühne, um gegen das System Putin zu wettern: "Ich richte mich an die, die diesen Prozess initiiert haben. Wenn jemand glaubt, dass wir das, womit wir begonnen haben, stoppen werden, dann irrt er sich gewaltig. Wir werden diesem Haufen Missgeburten nicht erlauben, unser Volk weiterhin zu zwingen, sich zu Tode zu saufen und in Armut zu verfallen. Wir werden alles dafür tun, um das feudale Regime in Russland zu zerstören." Ob das der Großteil der Bevölkerung auch so will, ist fraglich. Laut Umfragen ziehen über die Hälfte der Russen weiterhin einen starken Mann an der Spitze des Landes einer Demokratie vor. Sollte der Prozess keinen Freispruch bringen, wird dieser starke Mann wohl noch länger Putin heißen.