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Der Fiebertraum der Menschheit

Von Adrian Lobe

Reflexionen
Fiebermessen (wie hier in Neu Delhi) gehört zur "neuen Normalität". Man weist sich nicht mehr mit seinem Personalausweis als Bürger aus, sondern mit seiner Körpertemperatur, die sozusagen die körperliche Integrität der Person testiert.
© reuters/Adnan Abidi

Kranksein ist in Zeiten einer Pandemie keine Privatsache mehr, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Von der Rückkehr des Biologismus.


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Es sind verstörende Bilder, die die Corona-Pandemie produziert: Grenzbeamte halten "Fieberpistolen" an die Stirn von Autofahrern, als handele es sich um Schwerverbrecher, in Städten desinfizieren Feuerwehrleute in Schutzkleidung Straßenzüge, und in Deutschland werden Drive-in-Testzentren eingerichtet, wo Mediziner am Auto einen Abstrich entnehmen.

In China und zahlreichen anderen Ländern werden Einreisende an Flughäfen von hochauflösenden Wärmebildkameras gescreent. Wer eine erhöhte Körpertemperatur hat, muss sofort in Quarantäne. Die Fluggesellschaft Korean Air lässt Passagiere mit Fieber schon gar nicht mehr an Bord. In Wuhan wurden die Bürger angehalten, täglich Fieber zu messen und die Ergebnisse via Telefon oder App an die Behörden zu übermitteln. Und in der Provinz kreisen Drohnen über den Köpfen der Menschen, die mit Hilfe einer KI-gestützten Kamera die Atemschutzmaskenpflicht und Körpertemperatur in der Bevölkerung kontrollieren.

Die Entschlüsselung des Körpers ist der alte Fiebertraum der Menschheit, der durch digitale Technologien zum Greifen nah erscheint. Das US-Gesundheitsunternehmen Kinsa Health hat über eine Million Fieberthermometer an Haushalte verteilt bzw. verkauft, um eine groß angelegte Fiebermessung der Gesellschaft durchzuführen. Anhand von Millionen Datenpunkten erstellen die Datenwissenschafter eine täglich aktualisierte, interaktive Karte, auf der für jede Region zu sehen ist, wie hoch die Infektionsquote bzw. Ansteckungsgefahr ist. Wenn in Springfield plötzlich mehrere Personen Fieber bekommen, würde sich dies in der Statistik sofort bemerkbar machen.

Die US-Fast-Food-Kette CaliBurger geht noch einen Schritt weiter: In einer Filiale im kalifornischen Pasadena wurde als Präventionsmaßnahme gegen Corona im Eingangsbereich eine Wärmebildkamera installiert, die die Temperatur von Kunden misst. Nur wer sich dem Screening unterzieht und eine normale Körpertemperatur aufweist, darf dieFiliale betreten. Wer Fieber hat, muss draußen bleiben.

In diesen autoritär anmutenden Screening-Praktiken manifestiert sich eine neue Form der Normalitätsfeststellung, die nicht mehr entlang juridisch-geografischer Grenzen (Inländer/Ausländer), sondern entlang biologischer Grenzen bzw. Codes (gesund/krank) verläuft.

Die Körpertemperatur wird zu einem Grenzwert wie bei Feinstaubemissionen. Man weist sich nicht mehr mit seinem Personalausweis als Bürger aus, sondern mit seinem Körper bzw. seiner Körpertemperatur, die sozusagen die körperliche Integrität der Person testiert. Wer keine "normale" Körpertemperatur, sondern erhöhte Temperatur oder gar Fieber hat und möglicherweise unter Corona-"Verdacht" steht, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und in Quarantäne gesteckt.

Der französische Philosoph Michel Foucault prägte dafür die Begriffe der "Bio-Macht" und "Bio-Politik". In seinem Werk "Der Wille zum Wissen" (1976) beschreibt er, wie im 17. und 18. Jahrhundert in Institutionen wie der Schule und Armee neue Kontrolltechniken entstanden sind: "Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat. Die Installierung dieser großen, doppelgesichtigen - anatomischen und biologischen, individualisierenden und spezifizierenden, auf Körperleistungen und Lebensprozesse bezogenen - Technologie charakterisiert eine Macht, deren höchste Funktion nicht mehr das Töten, sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist." Macht bedeutet nicht mehr, über den Tod zu entscheiden, sondern die "sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens".

"Politische Anatomie"

Die Integration der gelehrigen Körper in den Produktionsapparat war nach Foucault zunächst konstitutiv für die Entwicklung des Kapitalismus, später war die Bio-Macht gewissermaßen der Geburtshelfer des modernen Staats, der mit der Unterwerfung der Körper in Armeen und Schulen mittels der Disziplin eine "politische Anatomie" formierte. "Zum ersten Mal reflektiert sich das Biologische im Politischen", schreibt Foucault.

Die Bio-Macht wie auch die klassischen Disziplinarapparate haben, zumindest in liberalen Demokratien des Westens, in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren. Der Staat übt, einmal abgesehen von der Impfpflicht, immer weniger Macht über die Körper aus. Das spätmoderne Subjekt dressiert und diszipliniert sich selbst, es verordnet sich Rosskuren in Form von Low-Carb-Diäten, es trackt seine Schritte via App und stählt seinen Körper in Fitnessstudios.

Diese Selbstoptimierung dient vor allem der Ökonomie, weil ein gesunder auch immer ein produktiver Mitarbeiter ist. Doch in der Epidemie kehrt die Bio-Macht mit voller Wucht zurück: Der Staat bemächtigt sich der Körper seiner Bürger, er checkt wie ein omnipräsenter Amtsarzt ihre Temperatur, schreibt ihnen bürokratisch-formalistische Abstandsregeln vor, die man sonst nur im Baurecht kannte, er verlangt Gesichtsbedeckung durch Atemschutzmasken, trackt ihre Bewegungen mit Smartphones, führt Tests und Untersuchungen durch, appelliert ans Händewaschen. Kranksein ist in Zeiten einer Pandemie keine Privatsache mehr, sondern eine öffentliche Angelegenheit.

Die Fieberkontrolle wird dabei zum zentralen Handlungsfeld der öffentlichen Hygiene, die für Foucault konstitutiv für die Herausbildung des modernen Staates war. Diese Biokratie, die man auch schon bei der Sars- und Ebola-Epidemie beobachten konnte, wird mit aller Härte exekutiert. So wurde in China ein Mann aus einem Flugzeug gezerrt, weil sein Gesundheitsstatus auf Rot sprang - er war einen Monat zuvor mit einem Corona-Patienten in einer Maschine gewesen, hatte aber keine Symptome entwickelt.

Krankheit & Kriminalität

Wer die Fieberkontrollen umgeht, macht sich verdächtig - was zeigt, wie die Grenzen zwischen Krankheit und Kriminalität verschwimmen (Stichwort "Verdachtsfälle"). Eine chinesische Touristin, die Erkältungssymptome wie Husten und Heiserkeit zeigte und aus Angst, am Flughafen Wuhan an der Ausreise gehindert zu werden, fiebersenkende Medikamente einnahm, wurde von der chinesischen Botschaft in Paris im Netz aufgespürt - die Frau hatte auf WeChat mit dem Besuch eines Sterne-Restaurants in Lyon geprahlt und darüber berichtet, wie sie die Screening-Prozedur unterlaufen hatte. Im Netz brach daraufhin ein Sturm der Entrüstung los.

Das methodische Problem von Wärmebildkameras besteht nicht nur darin, dass Menschen ihre Körpertemperatur medikamentös herunterregulieren können und damit unter dem Radar laufen, sondern auch darin, dass es bekanntlich zahlreiche Menschen gibt, die das Coronavirus in sich tragen, aber keinerlei Symptome zeigen. Die gehen ebenfalls leer aus. Die Bio-Macht stößt hier selbst an Grenzen.

Es gibt auch Menschen, die aufgrund von Autoimmunerkrankungen eine erhöhte Körpertemperatur haben. Würde diesen Menschen dann aufgrund der Überschreitung des Grenzwerts die Freiheit entzogen?

Die Frage ist: Welcher Wert ist eigentlich "normal"? Und wer bestimmt das? Seit Mitte des 19. Jahrhunderts galt der Wert des deutschen Internisten Carl Reinhold August Wunderlich von 37 Grad als Maßstab. Anfang des Jahres aber haben US-Mediziner in einer Studie festgestellt, dass die Körpertemperatur geringer ist - sie ist seit der Industriellen Revolution um 0,03 Grad Celsius pro Geburtsdekade gesunken. Und: Sie ist von zahlreichen Faktoren abhängig wie Geschlecht, Größe, Alter und Tageszeit. Abstrakt formuliert: Was früher normal bzw. die Norm war, ist heute nicht mehr normal. Und was bei der einen Gruppe normal ist, ist es bei der anderen Gruppe nicht mehr.

Die Gefahr dieser metrischen Populationsanalysen besteht also nicht nur in einer Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen, sondern auch in einer Biologisierung der Gesellschaft, wo Gruppenzugehörigkeiten über biologische Merkmale definiert werden. Wer diese Merkmale nicht aufweist, wird aus der biologisch definierten Gemeinschaft ausgeschlossen. Was zeigt, wie digitale Technologien soziale Exklusionsprozesse forcieren.

Pathologische Gesellschaft

Mit den anthropometrischen Techniken hält ein neuer Biologismus Einzug in die Gesellschaft, der von autoritären Strömungen zu einem "gesunden Volkskörper" umgedeutet werden könnte. Auch wenn Fieberkontrollen die Ansteckungsgefahrlokal minimieren und wirtschaftliche Schäden abmildern können, sollte man genau überlegen, ob man diese soziale Selektion auch nach der Epidemie aufrechterhält. Denn eine Gesellschaft, die Kranke aussortiert, ist am Ende selbst pathologisch.

Anmerkung zum Text: In einer früheren Version des Artikels wurde ein historisch belasteter Begriff verwendet. Wir haben die besagte Stelle ausgebessert. Wir bedauern die Verwendung.

Adrian Lobe, geboren 1988 in Stuttgart, studierte Politik- und
Rechtswissenschaft in Tübingen, Heidelberg und Paris. Er schreibt als
freier Journalist für diverse deutschsprachige Medien.