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Der finale Kampf gegen Polio

Von Heiner Boberski

Wissen

Wie Kinderlähmung ausgerottet und einem Wiederaufflammen vorgebeugt werden könnte.


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Ann Arbor (USA)/Wien. Die Vertreter des öffentlichen Gesundheitswesens stehen bereit, um Kinderlähmung (Poliomyelitis oder Polio) auf unserem Planeten auszulöschen. Doch eine neue Studie zeigt, dass die Sache noch nicht damit erledigt wäre, wenn der letzte Fall dieser schrecklichen paralytischen Krankheit registriert wird.

Eine stille Übertragung des Polio-Virus könnte für drei oder mehr Jahre andauern, ohne dass Fälle berichtet werden, heißt es in einem aktuellen Beitrag im Open-Access-Journal "Plos Biology" (www.plosbiology.org). Das zeigen die junge Forscherin Micaela Martinez-Bakker und die Professoren Aaron A. King und Pejman Rohani vom Department für Ökologie und Evolutionsbiologie der Universität von Michigan in Ann Arbor anhand von Modellen von Krankheitsübertragung auf. Um sicherzustellen, dass die Krankheit wirklich ausgerottet ist, müssten in den betroffenen Ländern nach dem letzten registrierten Fall noch jahrelang strenge Überwachungsprogramme und Impfkampagnen fortgesetzt werden, lautet ihre Schlussfolgerung.

Erst mit dem Virus ist auchdie Krankheit besiegt

Micaela Martinez-Bakker hat sechs Jahre an der Polio-Studie gearbeitet, die Teil ihrer Doktorarbeit ist. Sie sagt: "Indem wir Übertragungsmodelle verwenden, zeigen wir, dass ununterbrochene Ketten von stiller Übertragung in Populationen über mehr als drei Jahre möglich sind, ohne dass eine Einzelperson jemals als Polio-Fall registriert wird. Wenn wir einmal Polio ausgerottet haben - oder denken, die Krankheit ausgerottet zu haben -, sollten wir wahrscheinlich die Überwachung der Umgebung intensivieren, um sicherzustellen, dass sich das Virus nicht unter einer Kapuze auf sehr niedrigen Stufen versteckt hält. Polio auszurotten, bedeutet das Virus auszurotten, es ist nicht das Ausrotten der Krankheit Kinderlähmung."

In vielen Ländern zählt die Polio-Impfung längst zur Routine, auch wenn es schon lange keine Neuerkrankungen gab - in Österreich zuletzt 1980 durch einen eingeschleppten Fall. Wenn die Impfraten sinken, etwa im Bürgerkrieg in Syrien oder während der Ebola-Epidemie in Westafrika, treten in solchen Regionen wieder mehr Fälle von Kinderlähmung auf.

Die einzigen Länder, in denen Polio noch regelmäßig auftritt, sind Pakistan, Afghanistan und Nigeria - 1988 waren noch 125 Länder davon betroffen. Die Krankheit erfasst hauptsächlich Kinder unter fünf Jahren und führt bei einer von 200 Infektionen zu irreversibler Lähmung, heißt es seitens der Weltgesundheitsorganisation WHO, die 2013 weltweit 416 Polio-Fälle registrierte. 2014 wurden in Pakistan noch mehr als 300 Fälle von Kinderlähmung gemeldet, in Afghanistan nur acht. In diesen Ländern gibt es immer wieder Fälle von Impfverweigerung, radikale Taliban haben wiederholt auch Impfteams tätlich angegriffen.

Martinez-Bakker analysierte Berichte über Polio-Fälle und Epidemien aus der Zeit, bevor es Impfstoffe gab, und zog auch Geburtenstatistiken heran. Das ermöglichte ihr tiefen Einblick in die Ökologie der Polio-Infektion, als menschliche Intervention weitgehend fehlte. Sie kam zu dem Schluss, dass die gebräuchlichste Erklärung für den markanten Anstieg von Polio in den USA von den 1930er bis zu den 1950er Jahren, die "Hygiene-Hypothese", falsch ist. Nicht ein Immundefekt als Folge der Verbesserung der Hygiene und der sanitären Versorgung war, wie man angenommen hat, die Ursache, sondern der Anstieg der Geburten nach Kriegsende: "Wenn es mehr Kleinholz gibt, kann auch ein viel größerer Waldbrand entstehen. Der Babyboom sorgte für mehr Kleinholz für Polio-Epidemien: Kleinkinder und Babys im Alter von über sechs Monaten - daher waren nun viel mehr explosive Ausbrüche möglich."

Den Höhepunkt erreichte die Epidemie in den USA 1952 mit etwa 57.000 Fällen. Drei Jahre später begann durch Massenimpfungen mit der Vakzine von Jonas Salk eine neue Ära. Heute sind weltweit zwei Impfstoffe in Gebrauch. Die aktuelle Studie erklärt, warum Epidemien in den USA vor der Vakzine-Ära explosiv und saisonal auftraten und geographisch variierten. Martinez-Bakker stellt fest: "Die Ausrottung zu erreichen und einem Wiederauftreten von Polio vorzubeugen, erfordert eine intime Kenntnis dessen, wie das Virus sich halten kann."