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Der Fluch der Selbstgerechten

Von Walter Hämmerle

Reflexionen

Vertrauen als Mangelware. Ivan Krastev und David Goodhart im Interview über die neuen Massen-Eliten.


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Etablierte Parteien, traditionelle Medien, aber auch die unabhängige Wissenschaft haben allesamt mit dem gleichen Problem zu kämpfen: Immer mehr Bürger und Bürgerinnen entziehen ihnen das Vertrauen. Egal, ob es nun um die Folgen von Migration, Klimawandel und Telekommunikation oder Steuern, Impfen und Sicherheit geht. Das ist die eine Seite. Gleichzeitig haben wir historisch gelernt, dass Vertrauen zwar gut, Kontrolle aber besser ist. Zweifel und Misstrauen ist deshalb ein zentraler Hebel, dass Eliten ihre Macht nicht auf Kosten anderer maximieren. Das ist die andere Seite.

"Rebuild Trust in Politics" lautete in Wien das Motto eines Diskussionsabends von Politischer Akademie der ÖVP und Konrad Adenauer Stiftung der CDU. Mit dabei waren unter anderen der bulgarische Politologe Ivan Krastev und der britische Autor und Journalist David Goodhart, der die Unterscheidung zwischen den eher ländlich verhafteten, schlecht gebildeten und traditionellen Wertvorstellungen anhängenden "Somewheres" sowie den hochgebildeten liberalen und urbanen "Anywheres" in die Debatte einführte. Die "Wiener Zeitung" traf beide zum Interview.

"Wiener Zeitung": Wir haben das Gefühl, in besonders bedrängten Zeiten zu leben. Unser Vergleich sind dabei stets entweder die Nachkriegsära mit ihrem breiten sozialen Konsens oder die Zwischenkriegszeit, als die liberale Werteordnung dem Faschismus oder Kommunismus zum Opfer fiel. Aber womöglich waren sowohl der Nachkriegskonsens wie auch die Zwischenkriegszeit keine normalen Zeiten, sondern eher das, was wir jetzt erleben?David Goodhart: Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich würde aber bestreiten, dass die Nachkriegszeit so stabil war mit all den Revolutionen wie 1956, 1968 oder 1978. Aber ja, es war die Ära des westlichen Wohlfahrtsstaats. Und in den vergangenen 10, 15 Jahren hat sich der Schwerpunkt politischer Konflikte auf Fragen von Kultur und Identität verlagert, womit sich viele Liberale nicht wohlfühlen.

Immer mehr Bürger entziehen etablierten Parteien und Institutionen ihr Vertrauen. Das weckt Sorgen um die liberale Demokratie. Aber dramatisieren wir nicht unsere Lage? Schließlich müssen Intellektuelle Bücher verkaufen, was zugespitzte Analysen fördert.Ivan Krastev: Ja, natürlich dramatisieren wir, und wir tun das aus drei Gründen. Der eine ist, wie Sie richtig sagen, der, dass bestimmte Gruppen - und Journalisten gehören dazu - mit Vertrauen ihr Leben finanzieren; und wenn dann der Trend entsteht, dass der eigenen Arbeit immer mehr Misstrauen begegnet, dann verleitet dies dazu, dieses Misstrauen zu verallgemeinern. Der zweite Grund liegt darin, dass wenn man heutzutage nicht übertreibt und zuspitzt, einem niemand zuhört. Und drittens gilt der Grundsatz, dass es besser ist, die Probleme anzusprechen und zu bekämpfen, wenn sie noch klein sind.

Goodhart: Ja, und ich erachte den Brexit wie auch die Wahl Donald Trumps als Belege dafür, dass unsere Demokratien funktionieren. Menschen, die das Gefühl hatten, nicht gehört zu werden, haben sich Gehör verschafft. Das ist Demokratie. Ein wichtiger Aspekt wurde aber noch nicht angesprochen: Gesellschaften werden unregierbar, wenn sie zu viele gebildete Menschen aufweisen. Das Problem einer Massen-Elite ist, dass damit auch die Zahl derjenigen steigt, die Probleme durch eine weltanschauliche Brille betrachten. Jedenfalls britische Intellektuelle haben hier keine gute Bilanz: In den 1930ern unterstützte die eine Hälfte die kommunistische Sowjetunion und die andere den deutschen und italienischen Faschismus. Trotzdem bleibt eine theoretisch ausformulierte Weltanschauung eine attraktive Versuchung, weil sie Sicherheit gibt; als Jugendlicher war ich selbst Marxist. Menschen ohne höhere Bildung sind dafür weniger anfällig, sie behalten die realen Probleme im Fokus und handeln auf Grundlage einer nüchternen Weltsicht.

Krastev: Was bedeutet es überhaupt, gebildet zu sein? Gebildet ist, wer so tut, als ob es niemanden gebe, der es besser weiß als man selbst! Gebildete machen sich eine eigene Meinung über alles und jeden. Genau das aber ist heute lächerlich, dafür ist die Welt viel zu komplex - und war es immer. Hausverstand, das ist etwas, das die einfachen Leute haben; eine eigene Meinung ist dagegen das Privileg der Eliten. Wir wissen auch von US-Untersuchungen, dass Menschen mit höherer Bildung toleranter gegenüber fremden Kulturen, Religionen und Traditionen sind als gegenüber den Ansichten von Menschen, die nicht ihre politischen Ansichten teilen. Diese Menschen haben viel in ihre Überzeugungen investiert, deshalb sind sie auch so wichtig für sie, eben weil sie selbst eine Entscheidung darüber getroffen haben.

Herr Krastev, eines Ihrer Bücher heißt "In Mistrust We Trust: Can Democracy Survive When We Don’t Trust Our Leaders?". Eine gesunde Portion Misstrauen gegenüber den Mächtigen ist tatsächlich notwendig. Warum dann die Sorge vor fehlendem Vertrauen?Krastev: Demokratie ist darauf angewiesen, dass es ein Gleichgewicht gibt zwischen dem von Ihnen angesprochenen Misstrauen gegenüber Macht und einem Grundvertrauen in die Institutionen, die dieses System tragen. Zu viel Vertrauen in eine Regierung schadet der Demokratie, weil die Eliten dies ausnutzen, was wiederum schlecht für die Gesellschaft ist. Bis in die 1960er-Jahre hinein war Vertrauen in die Institutionen jedenfalls in den USA die Norm, doch plötzlich war da eine Generation, die Misstrauen gegenüber allen Autoritäten als Emanzipation verstand. Höhere Bildungsabschlüsse führten dazu, dass immer mehr Menschen zu allem und jedem den Wert ihrer eigenen Meinung betonten. Ab diesem Moment wurde Misstrauen in traditionelle Autoritäten als Zeichen einer Demokratisierung betrachtet, auch und ganz besonders in den postkommunistischen Staaten.

Wann wird Misstrauen zu einem gesellschaftlichen Problem?Krastev: Ab dem Zeitpunkt, wo eine Mehrheit beginnt, allem und jedem zu misstrauen, wird die Gesellschaft unregierbar. Die zentralen Institutionen sind auf ein Mindestmaß an Vertrauen angewiesen. Man muss nicht unbedingt der Regierung vertrauen, aber irgendjemandem schon. Wir alle müssen auf Institutionen und Prozesse vertrauen, über die wir keine Kontrolle haben. Dieses Vertrauen aufzubauen, ist eine komplexe Sache, weil eigentlich sind Menschen darauf konditioniert, dass wir nur dem vertrauen, was wir kennen und kontrollieren können. Das ist in unseren komplexen Gesellschaften aber nicht mehr möglich. Wenn wir nun das Vertrauen in das Funktionieren unserer Gesellschaften zu verlieren beginnen, wird es sehr schwierig werden, es wieder neu aufzubauen. Ja, wir wissen nicht einmal, ob wir dazu überhaupt in der Lage sein werden.

Staaten wie Italien haben gelernt, mit dem habituellen Misstrauen ihrer Bürger umzugehen.Goodhart: Allerdings ist es schon so, dass wir zwar sagen, dass wir unseren Institutionen nicht mehr vertrauen, in unserem alltäglichen Verhalten tun wir es aber trotzdem. Gott sei Dank, muss man dazu sagen. Wir halten uns an die Verkehrsregeln, wir vertrauen, dass uns die öffentlichen Verkehrsmittel angemessen verlässlich ins Büro oder zum Flughafen bringen . . .

Krastev: Das ist ein interessanter Punkt. Man kann der Regierung misstrauen, auch dem Finanzamt, aber selbst die Italiener müssen irgendjemandem vertrauen, damit ihre Gesellschaft funktioniert. Das sind hier vor allem Familie und familienähnliche Strukturen. Das Gleiche erleben wir nun in vielen anderen Staaten: Immer mehr Menschen verlieren ihr Vertrauen in die universalen Institutionen, dafür vertrauen sie bedingungslos Gruppen, die wie ihre Familien funktionieren, etwa den Freunden auf Facebook und anderen Sozialen Medien. Wir vertrauen Gemeinschaften, die wir selbst aussuchen, das gilt für Rechte wie Linke, für Konservative wie Progressive. Und es ist erstaunlich, wie sehr wir bereit sind, noch den größten Unsinn zu glauben, solange es nur von der eigenen Gruppe akzeptiert wird. Das Misstrauen in universale Institutionen hat also zu einem pathologischen Vertrauen in ganz kleine Gemeinschaften geführt. Wir misstrauen etablierten Medien, aber glauben praktisch alles, was in unseren abgeschotteten Echokammern geteilt wird!

Es sind aber nicht nur die Bürger, die den Eliten misstrauen, auch die Eliten misstrauen den Bürgern, etwa wenn stets die Furcht beschworen wird, dass Mehrheiten jederzeit wieder in autoritäre oder faschistische Richtungen kippen können.Krastev: Traditionelle Konservative und alte Marxisten hatten etwas Wichtiges gemeinsam. Beide behaupteten von sich, sie würden die einfachen Menschen bewundern und hochhalten. Bei den Konservativen waren das vor allem die Bauern, die noch die guten alten Werte pflegten - Familie und Religion. Und alle marxistischen Intellektuellen sagten ständig, sie wollten am liebsten Arbeiter sein. Damals waren die linken wie rechten Intellektuellen noch sehr kleine Gruppen. Heute haben wir das Phänomen der Massen-Elite, und die pflegt nach wie vor das alte Vorurteil, wonach Mindergebildete irgendwie moralisch minderwertig seien. Die Demokratin Hillary Clinton sprach 2016 von Trump-Wählern als einem "Sack von Kläglichen"; und 2012 war es der Republikaner Mitt Romney, der die 47 Prozent der Bürger, die keine Steuern zahlten, als nutzlos denunzierte. Solange die Elite nur fünf Prozent der Bürger umfasste, konnte sie nicht von sich behaupten, nur sie verfügten über eine moralisch angemessene Werteorientierung, heute geht das, weil sie eine viel größere Zahl darstellen. Und genau das machen sich Populisten zunutze, indem sie den Menschen sagen: "Ich mag Euch, so wie Ihr seid, mit allen Euren Fehlern, ich will Euch nicht ändern!"

Goodhart: Ja, genauso verhält sich auch Boris Johnson, und das ist auch seine Botschaft. Die Situation in Österreich und Deutschland mag aus nachvollziehbaren Gründen etwas extremer sein, aber grundsätzlich erleben wir in der gesamten westlichen Welt einen moralisierenden Kreuzzug. Das verschafft den Aktivisten ein gutes Gefühl von sich und ihrer Aufgabe. Und wer sich selbst als aufgeklärte Elite versteht, braucht natürlich auch eine unaufgeklärte Masse, die er ins gelobte Land führen kann.

Worüber man als Journalist oft stolpert, ist das Unvermögen, neue Begriffe für neue politische Phänomene zu entwickeln. Stattdessen heften wir unterschiedlichen Erscheinungen das gleiche Etikett an, das noch dazu längst zum Kampfbegriff geworden ist, sei es nun "populistisch", "nationalistisch" oder "neoliberal". Warum entwickelt die Politikwissenschaft keine neuen Begriffe für neue Phänomene?Goodhart: Tatsächlich fallen uns keine besseren Unterscheidungen ein als links gegen rechts und offen gegen geschlossen, doch das reicht nicht.

Krastev: In der akademischen Wissenschaft geht es meistens darum, etwas mit lang zurückreichenden Datenreihen zu analysieren; so gesehen werden hier immer Phänomene untersucht, die wir bereits kennen. Die Politologen werden daher die Letzten sein, die neue Begriffe entwickeln, weil sie damit die Vergleichbarkeit erschweren würden. Neue Begriffe sind die Sache von Science-Fiction-Autoren und Journalisten. Diese neuen Termini werden kommen, es braucht nur Zeit - und erst ganz am Schluss wird es dann auch die dazugehörigen Konzepte geben, die diese neuen Entwicklungen umfassend benennen und durchleuchten. Denn erst, wenn es diese Konzepte gibt, gibt es auch einen neuen Konsensus und Status quo.