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Der Fluch der ständig steigenden Erwartungen für die Politik

Von Walter Hämmerle

Europaarchiv
Jürgen W. Falter: Notwendig wäre mehr Mut zur Wahrheit. Foto: Uni Mainz

Der deutsche Politologe Jürgen W. Falter im Interview. | "Sprachlosigkeit" bei drängenden Problemen überwinden. | "Wiener Zeitung": Mit Schweden hat das Virus des Rechtspopulismus nun auch das europäische Vorzeigeland schlechthin infiziert. Gibt es gemeinsame Ursachen für diesen Trend? | Jürgen W. Falter: Es gibt gemeinsame Ursachen, die allerdings unter den jeweiligen nationalen Bedingungen vor sich gehen.


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Zu den wichtigsten zählen das große Unbehagen über die Einwanderungspolitik und eine damit zusammenhängende Sprachlosigkeit der etablierten Parteien; die durch die Krise noch verschärften Entwicklungen auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet, die zu Abstiegsängsten führen; hier spielt auch der durch die Globalisierung beschleunigte Export von Arbeitsplätzen eine Rolle; und schließlich das Unbehagen bezüglich einer EU, die sich aus Sicht vieler Bürger immer mehr zu einem schwer zu durchschauenden, anonymisierten Beamtenapparat entwickelt.

Die neuen Rechtspopulisten kombinieren Fremdenfeindlichkeit oft mit einer linkspopulistischen Sozialpolitik . . .

So neu ist das nicht. Der Faschismus hat zwar sehr viel radikaler, im Grunde genommen aber nicht viel anders agiert: Ethnozentrismus kombiniert mit einer Sozialpolitik für den "kleinen Mann".

Gibt es ein Rezept dagegen?

Am wichtigsten wäre eine sehr viel stärkere Integrationsleistung - von beiden Seiten, zudem muss sich die Zuwanderung sehr viel mehr an den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Staaten orientieren, also Ingenieure statt ungelernter Hilfskräfte. Und die Menschen erwarten, auch wenn das nicht meine persönliche Empfehlung ist, eine restriktivere Handhabung der Asylregelungen.

Warum die steigende Zahl von Protestwählern angesichts eines historisch einmaligen Wohlstandsniveaus?

Das ergibt sich aus der Theorie der "Revolution ständig steigender Erwartungen": Es darf auf keinen Fall mehr schlechter werden, auch wenn der Status quo lediglich der Umsetzung populistischer Wahlzuckerln zu verdanken ist. In Frankreich hat so François Mitterrand das Pensionsantrittsalter von 60 Jahren eingeführt, später kam die 35-Stunden-Woche.

Wenn man diese Wahlgeschenke wieder zurücknehmen will, kocht der Volkszorn auf. Es verlangt viel Mut, an diesem Besitzstandsdenken zu rütteln.

Ist das Erstarken der politischen Ränder eine Folge davon, dass die Volksparteien in die Mitte drängen?

Teilweise ja, aber dieser Trend zur Mitte hängt auch damit zusammen, dass den Großparteien seit den 70er Jahren ihre traditionellen Milieus abhanden kommen. Weder die abnehmende Zahl der Kirchgänger noch die ebenfalls zahlenmäßig stark reduzierten Gewerkschafter lassen sich heute noch mit klassischer Klientelpolitik an eine Partei binden. Dazu kommt, dass der Nationalstaat seine Regulierungskraft in so zentralen Bereichen wie der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik verloren hat.

Die Bürger spüren das zwar, verlangen aber trotzdem von den Parteien, die sie wählen, die Lösung ihrer Probleme. Diese aber demonstrieren nur tagtäglich ihre Handlungsohnmacht. Und natürlich begünstigt auch das vorherrschende Verhältniswahlrecht die Entstehung neuer Parteien.

Also ein Mehrheitswahlrecht als Rezept gegen das Erstarken der politischen Ränder?

Ja, das ist eine mögliche Antwort. Damit würde auch die Regierungsbildung einfacher und transparenter.

Sie sprachen am Beginn von der Sprachlosigkeit der etablierten Parteien bei der Zuwanderungsproblematik. Wie erklären Sie sich diese?

Notwendig wäre mehr Mut zur Wahrheit, der existiert heute fast schon nicht mehr. Denken Sie nur an die Pensionsproblematik, hier mussten die Experten gleichsam die Politiker zwingen, endlich aktiv zu werden. Das Problem ist nur: Die Menschen wollen zwar durchaus die Wahrheit hören, es besteht aber eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Überbringer der schlechten Nachricht bei den nächsten Wahlen abgestraft werden.

Wie kann dieser Teufelskreislauf in der Demokratie durchbrochen werden?

Er muss auf jeden Fall durchbrochen werden, wenn nicht, droht unser demokratisches System zu kollabieren. Die Politik muss sich mutiger und offener als bisher den großen Probleme stellen.

Jürgen W. Falter (66) ist Professor für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz.