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Der freie Mann des freien Wissens

Von Christa Karas

Politik

"Frontalunterricht durch Lehrer ist Schnee von gestern." | "Kinder werden die Welt zunehmend selbst entdecken." | Wien. Jimmy Donal "Jimbo" Wales ist der Schrecken vieler Bildungspädagogen und besorgter Eltern, die auch im 21. Jahrhundert noch auf die traditionelle Vermittlung von Wissen pochen, sowie von Ächtern des "Copy-and-Paste"-Systems, das die problemlose Übertragung von Inhalten aus dem Internet in die Arbeitstexte von Schülern und Studierenden ermöglicht. Dennoch gilt bereits: Formeln aus Lehrbüchern abschreiben war gestern, die richtigen aus der Materialunmenge im Web herauszufinden, ist heute. Dank Wales.


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Der Mann, der gemeinsam mit Partnern Wikipedia, die Plattform des freien, allgemein gratis zugänglichen Wissens gründete, ist der festen Überzeugung, dass sich jeder jene Kenntnisse aneignen soll, die für ihn von Bedeutung sind. Geboren 1966 in Huntsville, Alabama, wurde er zunächst nur von seiner Mutter, einer Privatlehrerin, unterrichtet. Schon mit vier Jahren konnte er lesen und ließ sich in erster Linie von einer "World Book Encyclopedia" faszinieren.

Die Privatschule, an der er später seinen High-School-Abschluss machte, wählte er, weil sie bereits damals das Lernen am Computer ermöglichte. Er studierte Finanzwissenschaften bis zum Bachelor und Master, schrieb aber keine Dissertation, sondern wurde Börsenmakler mit einem ausgeprägten Freizeitinteresse: Fachphilosophie.

Aus diesem Grund drängte es ihn zu Diskussionen ins Internet, sein erstes eigenes Forum gründete er 1992 und moderierte es zentral. Doch zu viele Fragen waren damals noch offen, so dass sich Wikipedia erst über mehrere weitere Stufen entwickeln konnte.

Kontrollsystem

Dass dort lauter Dilettanten am Werk gewesen seien, hält sich als nettes, aber falsches Gerücht. Schon die Kerngruppe war, wie Wales einmal einräumte, auf ihr Wissen "ganz schön eingebildet" und der Meinung, einige der Beiträger von außen seien "Idioten und sollten gar nicht schreiben". Weshalb sich rasch Korrektoren herausbildeten. Das funktionierte mit dem zunehmenden Bekanntheitsgrad von Wikipedia und dank Dokumentation und Kontrolle immer besser:

Heute umfasst Wikipedia u. a. 2,5 Millionen Artikel in englischer sowie an die 900.000 in deutscher Sprache und zählt zu den zehn am häufigsten aufgerufenen Web-Sites der Welt. Dennoch verschwinden manipulierte Artikel oder PR-Aktionen meist binnen Minuten dank der Aufmerksamkeit eines globalen Netzwerks in den Hintergrund. Zensur ist das nicht, da alle Versionen und Diskussionen dazu gespeichert werden, dort weiterhin einsehbar und deshalb oft ziemlich peinlich sind: So wurde etwa das US-Militär bei Änderungen am Artikel "Guantanamo" ertappt.

Dem Prinzip der Offenheit sind also doch Grenzen gesetzt, ansonsten gilt der Konsens: "Es hat Bestand, was von der Gemeinschaft (der Bearbeiter) akzeptiert wird." Eine Gewähr für die Richtigkeit ist dies freilich ebenso wenig wie für durchgängige Qualität - weshalb nicht nur im Zweifel Recherchen in anderen Quellen von Nutzen sind.

Die Art des Lernens

Daneben spricht nicht zuletzt seine Aktualität für Wikipedia, das bereits 52 Prozent der deutschen Studenten laut einer Umfrage im November 2008 für vertrauenswürdiger halten als Meyers Lexikon und die Encyclopaedia Britannica.

"Jimbo" Wales, der sich als "freien Mann des freien Wissens" sieht (und 2006 vom "Time"-Magazin zu einem der 100 einflussreichsten Menschen der Welt gekürt wurde), denkt indessen im Hinblick auf Technologie und Kommunikation schon weit darüber hinaus.

Schon jetzt habe die Art des Lernens "nichts mehr zu tun mit dem Frontalunterricht durch Lehrer, die Stoffe nach vorgeschriebenen Plänen in die Hirne der Schüler hämmern. Unsere Kinder werden die Welt zunehmend selbst entdecken und dabei ihren eigenen Interessen folgen." Kira, seine siebenjährige Tochter, die von ihren Eltern zu Hause unterrichtet wird, beweist dies: "Sie liest alles über Genetik, was sie im Netz finden kann, und erfindet eigene Computerspiele."

Vor "Multitasking" warnt indessen auch Wales, der Dienstag beim Kongress com.sult 09 im Wiener Haus der Industrie einen Vortrag hielt: Zu viele überschätzten dabei ihre Konzentrationsfähigkeit.

Zur Zukunft von Wikipedia sagt Wales, das System werde allein durch die (zum Teil schon jetzt gegebene) Sprachenvielfalt weiter wachsen. Es wird aber auch Englisch bis in die entlegensten Orte der Welt transportieren und damit Menschen in diese einbinden, die diese Chance sonst nie gehabt hätten. Und es sei vorstellbar, dass sich daraus irgendwann irgendeine Art englischer Universalsprache im Netz entwickle.

Eine Kommerzialisierung der Plattform schließt Wales dezidiert aus, sie werde weiter durch Foundraising als Charity-Organisation betrieben: Ganz den Intentionen seiner Gründer und Betreiber entsprechend.