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Jaffa - Der Nahe Osten ist wieder einmal im Mittelpunkt des globalen Medieninteresses. Bilder von Steine schleudernden Jugendlichen, schwer bewaffneten und kriegsmäßig ausgerüsteten Soldaten und vor allem jene Video-Szene, in der ein zu Tode geängstigter 12-Jähriger im Rücken seines Vaters irrtümlich von israelischen Sicherheitskräften erschossen wird, schaffen eine Schwarzweißsicht auf die anhaltende Krisensituation. Gibt es überhaupt noch eine Chance für den Friedensprozess?
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Die Flüge nach Wien seien bis Mitte November ausgebucht, erklärt mir die freundliche Dame im Tel Aviver Stadtbüro der Austrian Airlines. Auf Nachfrage erklärt sie mir, dass jetzt viele Israelis einfach raus wollen, hinaus aus einer Situation, die nach Krieg zu riechen beginnt. Möglicherweise hat am vergangenen Freitag der palästinensische Unabhängigkeitskrieg begonnen.
Mittwochmorgen kurz vor acht Uhr, wenn die Kinder auf dem Schulweg sind, fahren durch Jaffa Lautsprecherwagen. Sie luden zu einer Demonstration am Nachmittag. Schon die letzten Tage wurde in Jaffa "demonstriert" - Jugendliche, fast ausschließlich junge Männer, begannen in den Nachmittag- und Abendstunden, auf Autos, die die Hauptstraße des arabischen Teils von Jaffa entlang fuhren, Steine zu werfen. Wenn ich die Fenster meiner Wohnung in Jaffa öffnete, hörte ich das Schreien der Demonstranten, die heulenden Sirenen der Polizeiautos, das Brummen der Hubschrauber über der Stadt. Am Schauplatz selbst, einer Kreuzung von fünf Strassen, Blaulicht, Polizisten in Demonstrationsausrüstung und bewaffnet, die Szene ist beleuchtet vom flackernden Schein brennender Autoreifen, der schwarze Rauch brennt in Augen und Nase. Die Scheiben von Geschäften sind eingeschlagen, Glassplitter überall, Steine, der felsige Strand ist nah. In den engen Gassen laufen Menschen, einige Jugendliche sind bereits im Polizeigriff, schreiende Mütter versuchen, der Polizei in die Quere zu kommen. Ambulanzen transportieren Verletzte ab.
In diesen Aktionen ist ein neuer Aspekt. Jaffa ist eine uralte Stadt, seit mehr als zweitausend Jahren von Arabern besiedelt, immer lebten hier auch Juden. Seit der Gründung des Staates Israel 1948 haben die meisten der arabischen Bewohner die Stadt verlassen. Um genau zu sein, die, die sich das leisten konnten. Zurück blieben die Armen. Heute leben rund 20.000 Araber in Jaffa, einem Sanierungsgebiet der mediterranen Großstadt Tel Aviv, in das die einstige Mutterstadt eingemeindet worden ist. Das Zusammenleben von Juden und Arabern in Jaffa ist weitgehend problemlos.
Die Probleme, die es gibt, sind soziale: Arbeitslosigkeit, heruntergekommene Bausubstanz, fehlende Infrastruktur, hohe Schulversagerquoten, Drogenhandel. Der Anteil der Araber unter den von diesen Problemen Betroffenen ist wesentlich höher als der der Juden. Aber Gewalt war kein Mittel der Auseinandersetzung in Jaffa. Die Stadtverwaltung, in der auch arabische Vertreter Jaffas sitzen, hat im letzten Jahr große Anstrengungen für Verbesserung der Lebenssituation unternommen. Sicher vor allem auch, weil es schick geworden ist für Künstler, Intellektuelle und Yuppies, in Jaffa zu wohnen.
Warum fliegen jetzt in Jaffa Steine? Achmed, mein arabischer Gemüsehändler, erklärt mir das: "Ja, ich bin Israeli, aber ich bin auch Palästinenser, vor allem, wenn sie jetzt die Al Aksa Moschee bedrohen."
Fernsehaufnahmen von nur mit Steinen bewaffneten Jugendlichen, die wie einst David einem übermächtigen und bestens ausgerüsteten Krieger alias Goliath gegenüberstehen, gehen wieder um die Welt wie zu Zeiten der Intifada von 1987 bis 1994. Aber da sind Unterschiede. Zur Zeit des Ausbruchs der neuen Intifada am jüdischen Neujahrsfest Ende der vergangenen Woche ist die Ausrufung eines selbständigen palästinensischen Staates auch in Israel unbestritten. Ungeklärt sind die genauen Grenzen dieses von Israel grundsätzlich gebilligten Staates, das Ausmaß seiner Souveränität, zum Beispiel bezüglich der Unterhaltung eines Heeres, die Frage, ob Teile Jerusalems dazugehören sollen.
Seit der Einrichtung einer Autonomieverwaltung gibt es auch eine bewaffnete palästinensische Polizei, die entgegen den Oslo-Verträgen mehr als 40.000 Mann umfasst. Diese Polizei kämpft nun auch teilweise auf seiten der Aufständischen gegen die Israelis. Für Aufsehen sorgte in der vergangenen Woche ein plötzlicher und unvermuteter Angriff eines palästinensischen Polizisten auf einen israelischen Grenzsoldaten, mit dem er gemeinsam auf regulärer Patrouille war. Mit dem Ruf "Allah ist groß" wandte der Mann seine Waffe gegen den Kollegen und erschoss ihn.
Während der ersten Intifada wurden seitens der Palästinenser teilweise bewusst keine modernen Waffen eingesetzt. Heute sind wesentlich mehr Waffen in den palästinensischen Gebieten vorhanden und darunter vor allem eine große Anzahl automatischer Schussfeuerwaffen. Im Sommer dieses Jahres wurden Tausende junger Palästinenser - Buben wie Mädchen im Alter zwischen 8 und 16 Jahren - in Ferienlagern militärisch gedrillt und an Kalaschnikow Gewehren ausgebildet. Die Bilder von diesem Training zeigte das palästinensische Fernsehen voller Stolz als Vorbereitung auf die Zeit nach einer Unabhängigkeitserklärung.
Ein weiterer, völlig anders gelagerter Aspekt der neuen Intifada liegt in der Beteiligung der israelischen Araber und darin, dass israelische Sicherheitskräfte nun gegen eigene Staatsbürger schießen. Zwei Gründe werden hier wirksam: zum einen eine jahrzehntelange Frustration der arabischen Bevölkerung in Israel durch zahlreiche Benachteiligungen. Ein Beispiel kann das demonstrieren: als ein arabischer Israeli in eine neuerrichete Wohnsiedlung in Galilaea ziehen wollte, wurde ihm das verwehrt unter Hinweis darauf, dass diese Siedlung nur für Juden errichtet worden sei. Trotz eines höchstgerichtlichen Beschlusses zu seinen Gunsten kann die Familie nicht in das von ihr gekaufte Haus einziehen.
Sonntagabend richtete Israels Premierminister Ehud Barak eine Sonderkommisssion unter Vorsitz des Wissenschafts- und Sportministers Matan Vilna'I ein, die nun rasch ein Förderungsprogramm für die arabischen Gemeinden umsetzen soll. Mit dieser Kommission versuchte Barak, die aufgebrachten arabischen Bürgermeister und Gemeindevorsteher zu beruhigen und zu motivieren, für Ruhe unter der arabischen Bevölkerung zu sorgen. Aber diese Maßnahmen könnten Jahrzehnte zu spät kommen. Denn in diese neue Intifada mengt sich noch ein weiteres zündendes Element: die Religion.
Seit der ersten Intifada hat die religiös fundamentalistische islamische Bewegung deutlich an Grund gewonnen in der arabischen Bevölkerung. Vor allem die sozialen Ungerechtigkeiten und - in den besetzten Gebieten - die häufige Demütigung der Palästinenser haben den radikalen Kräften geholfen, ihre Anhängerschaft zu vermehren. Der Streit um Jerusalem, der Streit um den Tempelberg vereint die arabische Bevölkerung diesseits und jenseits israelischer Grenzen. Viele Palästinenser wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass der Moscheen-Bezirk auf dem Tempelberg nicht nur Moslems heilig ist, weil von dort Mohammed in den Himmel aufgefahren ist, sondern auch den Juden. In dieser Darstellung wird die zeitliche Abfolge der Entstehung der beiden Religionen verdreht. Die Existenz des Salomonischen Tempels ist mittlereile auch archäologisch nachgewiesen. Die Forderung nach Erhaltung der israelischen Souveränität über einen Ort, der für beide Religionen heilig ist, wird von islamischen Fundamentalisten als Provokation empfunden. Der absolut nicht unschuldige Besuch des israelischen Oppositionspolitikers Ariel Sharon an diesem Ort war daher bestens geeignet, das Feuer, das längst vorbereitet war, zu entzünden.
Sicherheitspolitisch mag die Reaktion der Israelis verständlich sein. Klug war sie nicht. Der Einsatz von Schusswaffen im Moscheebezirk, Verwundete vor den religiösen Zentren der Muslime mussten fast zwangsläufig eine Einigung der arabischen Welt herbeiführen. Ariel Sharon, islamische Fundamentalisten und die parlamentarischen Repräsentanten der benachteiligten arabischen Bevölkerung Israels haben ein Ziel erreicht: Die Palästinenser, die sowohl die islamische wie die christliche Bevölkerung Israels umfassen, agieren endlich als ein Volk, wo immer sie leben. Ein Volk, das um seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpft. Es sieht so aus, als hätte der palästinensische Unabhängigkeitskampf am vergangenen Freitag begonnen.