Dass Wahlen "nichts mehr verändern können", ist ein durchaus gängiger Topos der modernen Demokratiekritik. Allerdings zu Unrecht.
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Das vernichtendste Urteil, das man über unsere Form der Politik behaupten kann, findet sich in einem Spruch, der auch auf Wiener Hauswänden als Graffito prangt: "Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten."
Über den Urheber des Bonmots gibt es mehrere Vermutungen. Die einen schreiben den Satz Kurt Tucholsky zu, andere weisen Rosa Luxemburg als Urheberin aus. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass der Satz aus der Feder der anarchistischen US-Feministin Emma Goldman (1869-1940) stammt. Man darf also vermuten, dass die Kritik aufs Grundsätzliche, die Gesellschaftsordnung, abzielt.
Wer auch immer daher die geflügelten Worte als Erstes formuliert hat: Eine grundsätzlichere Kritik, eine tiefere Verachtung für den liberalen Parteienstaat und für seine besondere Form der politischen Konfliktaustragung, den Parlamentarismus, lässt sich schwer denken.
Dabei ist der Vorwurf im Kern sogar zutreffend: Das System soll tatsächlich sicherstellen, dass sich am Verhältnis der Institutionen zueinander dem Grundsatz nach nichts oder nur relativ wenig verändert. Diese implizit eingebaute Bestandsgarantie wird heute allerdings von immer mehr als Nachteil wahrgenommen. Das Gefühl für die Notwendigkeit dieser Statik in der verfassungsrechtlichen Grundstruktur ist uns abhanden gekommen. Was nicht verwundert für eine Zeit, die den Wunsch nach ständiger Innovation fast schon zur Manie kultiviert hat.
Neuerungen werden unter solchen Bedingungen sehr schnell zum Selbstzweck. Egal wie, Hauptsache anders, denn dieses Anderswerden lässt sich nach der herkömmlichen politischen Logik fast immer als Reform, als Verbesserung verkaufen. Auch wenn im Nachhinein niemand mehr zu sagen vermag, worin genau dieser Fortschritt liegen soll.
Die aktuell hitzig geführte Debatte um eine Demokratiereform will (wenn auch nicht mehr vor den Wahlen) mehr Bürgermitsprache im Rahmen des bestehenden Parlamentarismus. Übersehen wird dabei jedoch, dass hier Feuer und Wasser zu mischen versucht wird. Denn, auch wenn es komisch klingen mag: Parlamentarismus ist in erster Linie ein liberales Prinzip, das dem demokratischen übergestülpt ist. Das freie Mandat ist, konsequent zu Ende gedacht, das genaue Gegenteil einer ebenso radikal verstandenen Demokratie, bei der die Abgeordneten lediglich als verlängerter Arm ihrer Wähler agieren.
Mehr Demokratie, weniger Liberalismus: Klingt nicht dramatisch, für Etliche wohl sogar verführerisch, ist aber ungemein schwierig, in die bestehende Verfassung zu integrieren, die nun einmal dem parlamentarischen Prinzip den Vorrang einräumt. Die schlichte Parole "mehr direkte Demokratie" wird dieser Problematik nicht gerecht, weil sie nicht näher darauf eingeht, welche Folgen die daran anschließende Konsequenz eines "weniger Parlamentarismus" für die Gesamtkonstruktion hat. Darüber lohnt es sich, ausführlicher als bisher zu diskutieren. Bevorzugt öffentlich. Dann müsste nur noch das heimische Parlament seiner eigenen Theorie zumindest annähernd entsprechen.