Demonstrationen haben mehrere Städte im Irak erfasst. Entfacht werden sie von der Wut auf korrupte Politiker.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Ausgangssperre. Bis auf weiteres. Man darf sich nur noch zu Fuß fortbewegen. Die Brücke über den Tigris, die zum Tahrir-Platz führt, ist komplett gesperrt. Soldaten der irakischen Armee verhindern ein Durchkommen.
Eigentlich hatten die sechs Millionen Einwohner von Bagdad gehofft, dass ihnen das künftig erspart bleibt. Jahrelang herrschten in der irakischen Hauptstadt Ausgangssperren - in unterschiedlicher Form. Mal nur freitags, mal nur nachts, mal für alle Fahrzeuge, mal eingeschränkt auf Lastkraftwagen, zuweilen auch total. Das heißt, wenn sich jemand auf der Straße zeigte, riskierte er, erschossen zu werden. Das war in den Zeiten des Bürgerkrieges 2006/07 und 2008, als Schiiten Sunniten umbrachten und umgekehrt. Dann wieder als Daesh, die Terrormiliz Islamischer Staat, versuchte, auch Bagdad unter ihre Kontrolle zu bekommen. Doch seitdem das Kalifat aufgehört hat zu existieren, gab es in Bagdad keine Ausgangssperre mehr. Jetzt also wieder.
Den Irak hat eine Protestwelle erfasst. Mindestens 18 Menschen sind seit Beginn der Proteste am Dienstag getötet worden. Zudem sollen allein in Bagdad mehr als 200 Menschen schwer verletzt worden sein, darunter 40 Polizisten. Die Sicherheitskräfte gehen mit brutaler Härte gegen die Demonstranten vor, schießen mit scharfer Munition und setzen Tränengas ein. Zudem funktioniert das Internet in weiten Teilen des Landes nicht mehr.
"Da wollen dann alle abkassieren"
Auch in anderen Städten Iraks gehen seit drei Tagen junge Menschen gegen ihre Regierung auf die Straßen - in Najaf, Nassirija, Amara und Kut. Sie protestieren gegen Korruption, Arbeitslosigkeit, schlechte staatliche Versorgung, desaströse Infrastruktur und politischen Stillstand. Der Irak belegt auf einer Skala der Organisation Transparency International den zwölften Platz unter den korruptesten Staaten. Seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Saddam Hussein durch eine von den USA angeführte Militärkoalition verschwanden nach offiziellen Statistiken umgerechnet mindestens 410 Milliarden Euro in den Taschen von zwielichtigen Politikern und Geschäftsleuten.
Schon Tage vor Ausbruch der Proteste beobachtete Azhar, wie sich die Wut über die politische Klasse des Landes in den sozialen Medien Bahn brach. Nur 5000 Jobs im öffentlichen Dienst seien ausgeschrieben worden, für fast 100.000 Studienabgänger. "Die jungen Leute sind sauer", sagt der 35-jährige Bagdader, der eine Arbeit als Fahrer bei einer privaten Firma gefunden hat. Obwohl er ein Ingenieurstudium abgeschlossen habe, sei dies immer noch besser, als arbeitslos zu sein. Allerdings sei der private Sektor im Irak noch völlig unterentwickelt. Alles sei noch zentral und staatlich geregelt - wie unter Saddam Hussein. Die Öffnung hin zu mehr Privatinitiative habe unzählige Hürden. "Da wollen dann alle abkassieren und mitverdienen."
In der Bevölkerung herrscht großer Frust. Laut der Weltbank liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 25 Prozent. Obwohl das Land zu den größten Ölproduzenten der Welt zählt, leidet es unter einem Energiemangel. Teilweise gibt es nur vier Stunden Strom am Tag. Zudem sind viele Gebiete nach dem Kampf gegen den IS noch immer zerstört.
Offenbar sorgen nur Proteste für Veränderungen
Vorbild für die Proteste in Bagdad und anderswo im Süden des Landes, sind offensichtlich die Unruhen in Iraks Südmetropole Basra im letzten Jahr. Über Wochen gingen dort zumeist junge Leute gegen Politiker auf die Straße, errichteten Barrikaden, zündeten Parteibüros und schließlich das Provinzratsgebäude an, wo die verhassten korrupten Politiker tagten und ihre Büros hatten. Auch die Studios des staatlichen irakischen Fernsehsenders "Iraqija" gingen in Flammen auf, weil er die Proteste der Jugend anfangs ignoriert hatte.
Auslöser der Demonstrationen in Basra waren die mangelnde Stromversorgung, verseuchtes Trinkwasser und auch ein gravierender Mangel an Arbeitsplätzen. Das schreckte die Politiker in Bagdad auf. Seitdem sind Millionen US-Dollar nach Basra geflossen. Die Stadt verzeichnet momentan 22 Stunden Strom, Wasser ist ausreichend vorhanden, wenn auch noch immer von schlechter Qualität. Straßen werden neu geteert, der Müll wird neuerdings auch nachts abgeholt, illegale Wellblechhütten, die Basra wie einen Slum aussehen ließen, werden abgerissen. Den Forderungen der Demonstranten ist entsprochen worden, wenn auch nicht in vollem Umfang. Doch in Basra ist es derzeit ruhig.
Iraks Präsident Barham Saleh verurteilt die Gewalt gegen die Demonstranten in Bagdad und fordert zu "Zurückhaltung und zur Einhaltung des Gesetzes" auf. "Friedlicher Protest ist ein Verfassungsrecht, das den Bürgern gewährt wird." Auch der Menschenrechtsausschuss des Parlaments kritisiert die "Unterdrückung" der Proteste.
Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi lobt dagegen die Sicherheitskräfte und macht für die Gewalt nicht näher bezeichnete "Angreifer" verantwortlich, die "gezielt Opfer verursacht" hätten. Mahdi selbst steht im Verdacht der Korruption und will wohl Ausschreitungen wie letztes Jahr in Basra unter allen Umständen vermeiden. Die Proteste dort verwehrten dem damaligen Premier Haider al-Abadi eine zweite Amtszeit.