Ein junger Mann wurde in einem Pariser Vorort von der Polizei misshandelt. Jugendliche machen ihrer Wut in gewaltsamen Protesten Luft.
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Paris. Wie eine Trennlinie verlaufen die Gleise der Schnellbahn RER durch Aulnay-sous-Bois. Sie teilen die Pariser Vorstadt nicht nur in Süden und Norden, sondern zugleich in zwei Welten. Auf der einen Seite Einfamilienhäuser und kleine Villen mit gepflegten Vorgärten, auf der anderen Seite Einwanderersiedlungen mit Sozialbauten, die sogenannten Cités. Hier, im Norden der Stadt, reiht sich ein grauer Gebäudeklotz neben den anderen. Von den Häuserwänden prangen Graffiti-Aufschriften wie "Nique la police" (F**ck die Polizei).
An den Straßenecken stehen Jugendliche in kleinen Grüppchen zusammen. Zigarette in der Hand, Jogginghose, Baseballkappe. Misstrauisch blicken sie Passanten nach. In regelmäßigen Abständen biegen Polizeiautos um die Ecke. Hört man in den Medien von Aulnay-sous-Bois, dann macht meist diese Seite der 82.000-Einwohnerstadt von sich reden. Wie ihre Nachbarorte Bobigny, Argenteuil oder Drancy gilt sie als vernachlässigter sozialer Brennpunkt, steht für Krawalle, Kriminalität und Perspektivlosigkeit.
Brutal misshandelt
Viele der Jugendlichen haben keine Ausbildung. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 40 Prozent. Im Herzen des nördlichen Stadtteils liegt die Cité Rose-des-Vents. Hier haben die Bewohner an einem Gartenzaun ein Plakat angebracht mit der Aufschrift "Justice pour Théo" - Gerechtigkeit für Théo. Am 2. Februar wurde der 22-Jährige dunkler Hautfarbe in dieser Wohnsiedlung von vier Polizisten brutal misshandelt. Eine Überwachungskamera hielt fest, wie eine routinemäßige Personenkontrolle eskalierte: Die Beamten traktierten den jungen Mann mit Händen und Füßen, Schlagstöcken und Tränengas. Einer der Männer rammte ihm dabei den Schlagstock in den After, die Ärzte diagnostizierten schwere Verletzungen im Analbereich. Théo lag zwei Wochen lang im Krankenhaus und wurde für 60 Tage arbeitsunfähig geschrieben.
Landesweit reagierten die Franzosen auf den Vorfall mit Demonstrationen. In den Vorstädten lieferten sich Jugendliche über eine Woche lang Auseinandersetzungen mit der Polizei. Autos gingen in Flammen auf. Die Bilder erinnerten an die Unruhen im Jahr 2005. Damals löste der Tod zweier Jugendlicher aus Einwandererfamilien, die auf der Flucht vor der Polizei verunglückten, wochenlang andauernde Aufstände aus. Doch anders als 2005 reagierten Politik und Justiz nach der "Affaire Théo" entschlossen. Die Beamten wurden vom Dienst suspendiert, gegen sie laufen Ermittlungen. Einer der Männer muss sich wegen Vergewaltigung verantworten.
Anfang dieser Woche eskalierte die Lage in den Vorstädten allerdings wieder. In dem Vorort Saint Denis kam es zu Zusammenstößen zwischen der Jugend und der Polizei. Am Dienstag legten mehrere Jugendliche in dem Gymnasium Suger Feuer. 55 Personen wurden vorläufig festgenommen, gegen acht von ihnen wird Anzeige erstattet. Erneut waren Rufe nach Gerechtigkeit für Théo zu hören, diese seien aber "nur ein Vorwand für viele Jugendliche, die eine Rechnung mit den Institutionen begleichen wollen", sagte der Lehrer Bruno Bobkiewicz der Zeitung "Le Monde".
In Aulnay-sous-Bois, in der Cité Rose-des-Vents, sitzt der Frust einen Monat nach der "affaire Théo" nach wie vor tief. Zusammenstöße mit der Polizei sind hier alltäglich "Wir werden ständig kontrolliert und dabei geht es selten sanft her", sagt der 20-jährige Nabil Kahrou. Er kickt mit Freunden auf einem Fußball herum, unweit der Stelle, an der der junge Théo Opfer der Gewalt wurde. Das französische Investigativmedium Mediapart veröffentlichte am 20. Februar einen Bericht über die Brutalität, mit der einige Beamte bei Kontrollen in den Cités von Aulnay-sous-Bois vor allem gegen schwarze und arabischstämmige Franzosen vorgehen würden. "Das Verhältnis der Jugend zur Polizei ist von Misstrauen geprägt. Schon von klein auf lernen sie, sich vor den Polizisten in Acht zu nehmen", sagt Nordine Yenbou. Der Gemeindebeamte mit algerischen Wurzeln arbeitet in der Cité Rose-des-Vents ehrenamtlich als Mediator. Während den Unruhen Anfang Februar war er mit seinen Kollegen stundenlang auf der Straße. "Wir haben versucht, die Jugendlichen zu beruhigen und ihnen zu erklären, dass die Polizisten für ihre Tat zur Verantwortung gezogen werden", erzählt er. Misstrauen, Wut auf die Behörden und Politikverdrossenheit machen sich in der Pariser Vorstadt auch bei den Urnengängen bemerkbar.
Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 lag der Anteil der Nichtwähler im ersten Durchgang bei 27,6 Prozent deutlich über dem Landesdurchschnitt. Ob hier im kommenden April mehr Menschen von ihrer Stimme Gebrauch machen werden, ist fraglich. "Die Banlieues interessieren in Frankreich nur dann, wenn Wahlen anstehen", ist Mohamed Belmokhtar überzeugt. Der 38-Jährige lebt seit über 20 Jahren im Norden von Aulnay-sous-Bois. " Die Sozialisten kommen alle fünf Jahre und tun so, als würden sie sich für uns interessieren. Und die Rechte und extrem Rechte nutzen uns, um Angst zu schüren ", fährt er fort. Etwa drei Kilometer weiter, südlich der Bahnstrecke, zeigt sich Aulnay-sous-Bois von einer anderen Seite. Cafés, Geschäfte und Einfamilienhäuser zeichnen das Straßenbild. Pensionisten führen ihre Hunde aus. In einem kleinen Park gehen junge Paare mit Kinderwägen spazieren. Die "affaire Théo" haben viele hier nur durch die Medien mitbekommen. "Mit dem, was in den Cités geschieht, geraten wir im Süden kaum in Verbindung", sagt die 71-Jährige Marie-Claire Labley. Zu Fuß verschlage es sie selten in den nördlichen Teil der Stadt "und mit dem Auto fahre ich schnell vorbei ", fügt sie hinzu.
Zulauf für Le Pen
Die pensionierte Pressesprecherin ist in Aulnay-sous-Bois geboren und aufgewachsen. Sie sorgt sich seit geraumer Zeit um die Entwicklung der Vorstadt. "In Aulnay-sous-Bois ist die Zuwanderung extrem stark. Und ein Teil dieser Zuwanderer sorgt regelmäßig für Ärger", beklagt sie. Aus dem Wunsch nach mehr Sicherheit hätten einige ihrer Mitmenschen auch politisch das Lager gewechselt. "Viele Nachbarn und Bekannte, die früher den Konservativen ihre Stimme gegeben haben, unterstützten inzwischen Marine Le Pen", sagt Labley.
In den Vorstädten erzielen die Rechtspopulisten in der Regel keine starken Ergebnisse. Eine Veröffentlichung des Meinungsforschers Jérôme Fourquet vom Institut IFOP zeigte im Jahr 2015 jedoch einen deutlichen Unterschied im Wahlverhalten der beiden Stadtteile von Aulnay-sous-Bois: Bei den letzten Präsidentschaftswahlen stimmten im Süden der Vorstadt 20,5 Prozent der Einwohner für den Front National, gegen gerade einmal 14,5 Prozent im Norden. "Das Bild, das die Cités im Norden Aulanys vermitteln, beängstigt die Bevölkerung im Süden, ob es um Unruhen oder Kriminalität geht", so die Schlussfolgerung des Autors. Auf den Vorfall vergangenen Dienstag im Gymnasium Suger in Saint Denis hatte Marine Le Pen, genau wie schon auf die Aufstände Anfang Februar, sogleich mit der Forderung nach härterem Durchgreifen und "null Toleranz" reagiert. "Das wäre auch dringend nötig", poltert eine ältere Dame, die sich im Park die Beine vertritt. Sie setze keinen Fuß in die nördlichen Viertel von Aulnay-sous-Bois. "Das Einzige, was ich von dort mitbekomme, ist das Geräusch der Polizeisirenen", sagt sie.
Dieses ist in den letzten Wochen in Aulnay-sous-Bois wieder seltener geworden. Auch Théo ist seit Mitte Februar wieder zu Hause. Noch vom Krankenhaus aus hatte er seine Unterstützer und Freunde dazu aufgerufen, keinen "Krieg gegen die Polizei zu führen". Doch das Misstrauen auf beiden Seiten ist groß.