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Der Frust ist groß

Von Anja Stegmaier

Politik

In Frankreich werden immer mehr soziale Bruchlinien sichtbar - das Gefälle ist Symptom des Versagens der bisherigen Regierungen.


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Paris/Wien. Montpellier geht es gut. Die rund 280.000-Einwohnerstadt nur zehn Kilometer von der Mittelmeerküste entfernt ist eine junge Stadt mit einer lebendigen Start-up-Szene. Viele kleine Unternehmen im Bereich neuer Technologien sprießen aus dem Boden, vor allem die Medizintechnik genießt weltweit guten Ruf. Viele wollen nach Montpellier - vorwiegend aus anderen Regionen Frankreichs: Jeder vierte Bewohner der Stadt studiert hier. Die französische Vorzeigestadt wurde jahrzehntelang von einem sozialistischen Bürgermeister regiert. Seit 2014 sitzt erstmals ein Unabhängiger, Philippe Saurel, im Rathaus.

Scheint alles bestens zu sein, im Süden Frankreichs. Von 2006 bis 2011 stieg die Anzahl der Jobs in 13 großen französischen Städten um fünf Prozent, so auch in Montpellier. Allerdings gingen landesweit zahlreiche Arbeitsplätze verloren. Die Arbeitslosenquote liegt bei knapp zehn Prozent. Auch in Montpellier gibt es neue Arbeitsplätze vorwiegend in der "new economy". Weniger gut ausgebildete Arbeitnehmer, darunter ein nicht unwesentlicher Teil Migranten der zweiten und dritten Generation, gehen bei der Suche nach traditionellen Jobs aber leer aus.

Neue Jobsmit null Perspektive

In den kleineren Städten um die Hauptstädte der Regionen gibt es keine Uber-Taxis, schicke Leihräder und Coworking-Spaces - und immer weniger Industrie. In der Peripherie hat man von neuen Technologien und kreativen Ideen nicht profitiert.

Rund ein Viertel der französischen Jugend ist ohne Arbeit und jene, die einen Job haben, sind prekär angestellt und bangen um ihre Zukunft. Kurzzeitverträge machen 80 Prozent bei den neuen Jobs aus, was konkret bedeutet, auf einen Monat befristet zu sein. Abstiegsangst grassiert. Eltern wie Kindern ist längst klar: In Zukunft werden es die nächsten Generationen schlechter haben, nicht besser.

2017 werden daher auch viele junge Franzosen erstmals ihre Stimme dem Front National (FN) geben - insbesondere arbeitslose und schlecht ausgebildete machen ihrem Ärger Luft. Denn die Frustration ist groß. Und in diese Kerbe schlagen die Spitzenkandidaten Marine Le Pen und Emmanuel Macron. Sie vermitteln den Anschein von "Anti-Establishment" und gehören nicht zu den etablierten Parteien, die in den bisherigen Jahren und Jahrzehnten für viele Franzosen gefühlt nichts für sie getan haben.

Auch in und um Paris tritt das Stadt-Land-Gefälle deutlich zutage. Der Front National errang bei den Regionalwahlen 2015 knapp 15 Prozent, die sozialistische Partei (PS) rund 30 Prozent. Fährt man mit dem Zug ins Umland, so steigt der Anteil für die Rechtspopulisten, je weiter man sich von der Hauptstadt entfernt, auf bis zu 40 Prozent - die Zustimmung für die Sozialisten sinkt um mehr als die Hälfte.

Die Kluft zwischen Stadt und Land ist aber mehr Symptom als Ursache. Sie steht für Deindustrialisierung, fehlende Reformen und ein unfaires Bildungssystem. "Le Midi rouge", der traditionell sozialistisch, kommunistische "rote Süden" des Landes, verfärbte sich zunehmend blau, denn nach den unerfüllten Versprechungen des republikanischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und seinem sozialistischen Nachfolger François Hollande scheint für viele der Front National die letzte Chance auf Veränderung. Das Kreuz für Le Pen garantiert einen Denkzettel für das "System" - was auch immer für ein Feindbild darunter verstanden wird: die Europäische Union, die Volksparteien, der erfolgreiche Nachbar Deutschland oder Flüchtlinge.