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Der ganz normale Ausnahmezustand

Von Petra Hessenberger

Politik

In Frankreich nahm das Anti-Terror-Gesetz die erste Hürde im Parlament - trotz zahlreicher Kritik.


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Paris/Wien. "Das gab es noch nie in der Fünften Republik", sagt Olivier bei einer Demonstration gegen die "Loi Travail", der Arbeitsmarktreform, am 23. Juni 2016. "Das Demonstrationsrecht wird eingeschränkt, und das unter einer sozialistischen Regierung", echauffiert sich der 50-jährige Gewerkschafter, der als Hausmeister an der Sorbonne arbeitet. Tatsächlich wurde die Demonstration zunächst untersagt und schließlich nach lauten Protesten in abgespeckter Form genehmigt. Als Grund nannte die Polizeipräfektur die Dauerbelastung der Sicherheitskräfte wegen der Terrorbedrohung und des damit einhergehenden Ausnahmezustandes.

Nur 106 Gegenstimmen

Letzterer erhitzt nicht nur die Gemüter der Gewerkschafter. Um endlich den Ausstieg aus der Notstandsverordnung möglich zu machen - vor vier Wochen wurde sie zum sechsten Mal bis Anfang November verlängert - wird nun ein Anti-Terror-Gesetz auf den Weg gebracht. In der Nacht auf Mittwoch nahm das umstrittene Gesetz die erste Hürde im französischen Parlament. Im Senat, dem französischen Oberhaus, stimmte eine deutliche Mehrheit von 229 Mitgliedern für das Gesetzesvorhaben, aus dem linken Lager gab es 106 Gegenstimmen. Es kam nur zu kleinen Änderungen am Gesetzestext, wie eine zeitliche Begrenzung bis 2021 und eine jährliche Überprüfung auf Zweckmäßigkeit der Maßnahmen. Im Oktober wird der Text dann in der Nationalversammlung diskutiert. Dort soll das Gesetz im Eilverfahren in nur einer Abstimmung beschlossen werden.

Das Anti-Terror-Gesetz, ein Wahlkampfversprechen des neuen Präsidenten Emmanuel Macron, soll den Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse bei der Terrorismusbekämpfung geben. Bestimmte Sonderbefugnisse, die während des Notstands gelten, sollen in abgeschwächter Form ins normale Recht übernommen werden. So werden die Möglichkeiten von Wohnungsdurchsuchungen ausgeweitet. "Gefährdern" soll zudem für eine bestimmte Zeit verboten werden können, ihren Wohnort zu verlassen. Den Behörden räumt das neue Gesetz das Recht ein, vorübergehend Moscheen oder Gebetsräume zu schließen, in denen mutmaßlich Terrorpropaganda betrieben wird. Vorgesehen ist auch die Einrichtung von Sicherheitszonen bei Großereignissen. Außerdem wird die EU-Richtlinie zurSpeicherung von Daten von Flugreisenden in Gesetzesform gegossen.

20 Monate befindet sich Frankreich schon im für Krisenzeiten vorgesehenen Ausnahmezustand. Das ist die längste Periode für die 1955 während des Algerienkrieges ins Leben gerufene Maßnahme. Bereits nach dem Terroranschlag auf die Satirezeitung Charlie Hebdo im Jänner 2015 wurde der "état d’urgence" in Erwägung gezogen. Noch bevor die Geiselnahme durch IS-Terroristen im Konzertsaal "Bataclan" am 13. November 2015 zu Ende war, verhängte der damalige Präsident François Hollande schließlich den Ausnahmezustand.

Bei der Gedenkfeier zwei Wochen nach den Anschlägen in Paris machte Hollande auch eine Hommage an die französische Lebensart: "Wir werden nicht nachgeben, wir werden weiter in die Stadien gehen, Musik hören und Chansons. Wir sind eine Nation, getragen von denselben Werten." Auch wenn ranghohe Politiker wiederholt versichern, dass die Freiheit auf keinen Fall eingeschränkt werden darf. Die Realität sieht doch anders aus. Zwar haben sich die Cafés und Konzertsäle langsam wieder gefüllt, aber die Notstandsverordnung scheint für die Pariser längst Alltag geworden zu sein. Ungefragt öffnen sie ihre Taschen, sobald sie am Eingang eines Einkaufszentrums Security-Männer erblicken. Dass sie bei jeder noch so kleinen Veranstaltung Kontrollen durchlaufen wie am Flughafen, nehmen sie scheinbar bereitwillig in Kauf. Aber allein, dass im Juni 2016 aus Sicherheitsgründen ein Demonstrationsverbot angedacht war, zeigt, dass die von vielen Politikern beschworene Freiheit doch ins Wanken geraten ist.

Macron versicherte in seiner Grundsatzrede am 3. Juli den Franzosen ihre Freiheiten zurückzugeben, denn diese sind die "Vorausssetzung für eine starke Demokratie". Kritiker sehen im neuen Gesetz jedoch vielmehr eine Bedrohung der Freiheit. Armeechef Pierre de Villiers übt zwar keine Kritik am Gesetz, trat aber wegen Macrons Sparkurs zurück. Mit den vorgesehenen Mitteln könne das Militär "den Schutz Frankreichs und der Franzosen" nicht mehr garantieren.

Die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch kritisieren, dass mit dem neuen Gesetz der Ausnahmezustand zum Dauerzustand werde. Einige hundert Demonstranten hatten sich am Dienstag vor dem Senat versammelt, mit "Ausnahmezustand, Polizeistaat! Wir geben nichts von unseren Freiheiten auf" machten sie ihrer Empörung Luft.

"Gesellschaft des Verdachts"

Ein Aufruf gegen den Gesetzesentwurf vom 12. Juli wurde inzwischen von knapp 500 Universitätslehrenden, vor allem aus den Rechtswissenschaften, unterzeichnet. Zentraler Kritikpunkt ist, dass bereits der kleinste Verdacht zur Einschränkung der persönlichen Freiheit führe. Die französische Juristin Mireille Delmas-Marty schreibt in einer Kolumne in der linksliberalen Tageszeitung "Libération" von einem "Bruch mit dem Rechtsstaat", das neue Gesetz mache aus einer "Gesellschaft der Verantwortung eine Gesellschaft des Verdachts".