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Der ganzen Welt stehen extreme Veränderungen bevor

Von Stefan Karner

Gastkommentare
Stefan Karner gründete und leitete bis 2018 das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung (Graz/Wien/Raabs) und war Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz.
© BIK

Wladimir Putins Aggressionskrieg gegen die Ukraine und seine weitreichenden geopolitischen Folgen.


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In der Ukraine tobt seit bald 130 Tagen ein Krieg, den Russland am 24. Februar mit einer militärischen Invasion völkerrechtswidrig begonnen hat - unter dem Vorwand von Sicherheit (Stichwort Nato-Osterweiterung) und Ausmerzung eines postulierten ukrainischen Faschismus. Die Kriegsziele blieben unklar. Es ist ein Krieg gegen die westlichen Werte, auch gegen die Westöffnung Russlands und gegen die russische Kultur, mit dramatischen Folgen: zwölf Millionen Flüchtlinge, tausende tote Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten, Millionen traumatisierter Frauen und Kinder, viele Milliarden Euro Kriegsschäden, Sanktionen, Embargos, Öl, Gas und Getreide als Waffen, unterbrochene Lieferketten, Misstrauen und Hass zwischen den beiden eng verzahnten Brudervölkern, schließlich ein Kollaps der weltpolitischen Ordnung im Parallelogramm USA/Russland/China/EU. Und der Krieg wird fortgesetzt - niemand kann heute vorhersagen, wie lange und in welcher Eskalation.

Was heißt dies alles geopolitisch und für Österreich? Die Hauptverlierer des Krieges, wann immer er endet, stehen schon jetzt fest: die Ukraine, Russland, vor allem aber Europa. Denn vermutlich wird es eine diplomatische Lösung erst nach einer Entscheidung auf dem Schlachtfeld geben. Ein Kompromiss ist derzeit nicht in Sicht, weil keine Seite konventionell deutlich unterlegen ist, die Kriegsziele nicht erreicht scheinen und kein Systemwechsel absehbar ist. Und keine Seite will ihr Gesicht verlieren: Nicht der Westen, der von der Ukraine seine Werte verteidigt sieht und Folgewirkungen bei anderen Potentaten befürchtet, nicht Wladimir Putin, dessen militärischer Erfolg vermutlich auch mit seinem eigenen Schicksal verbunden ist. Dabei wäre ein Ausstieg aus einem Krieg nicht immer eine Kapitulation. Der finnische Oberbefehlshaber Carl Gustav Emil Mannerheim schloss 1940 schon nach drei Monaten Winterkrieg Frieden mit Moskau, weil eine Fortsetzung nachteilig gewesen wäre. Große Gebietsabtretungen (Karelien) an die Sowjetunion waren zwar die Folge, doch Josef Stalin hatte sein Ziel, die Besetzung von ganz Finnland, nicht erreicht.

Ein BIP-Anteil wie vor der Industriellen Revolution

Eine Hauptfrage ist derzeit, ob man die Ukraine weiterhin kriegs- und lebensfähig erhalten soll, wie es der moralische Imperativ gebietet, solange sie einen "gerechten" Abwehrkampf führt. Zu fragen ist allerdings, wann aus dem moralisch gerechtfertigten Abwehrkampf ein regulärer, nicht mehr lokal begrenzter Krieg wird. Diesen gilt es zu verhindern. Ich erinnere an John F. Kennedy, der 1961 auf dem Höhepunkt der Berlin-Krise klar aussprach: "A wall is better than a war." Oder an das besonnene Zurückweichen Nikita Chruschtschows und Kennedys in der Kuba-Krise. Und angesichts der Gefahr eines Atomkrieges stellte Bertrand Russel, im engen Austausch mit Albert Einstein, 1955 den Regierenden der Welt die todernste Frage: "Wollen wir die Menschheit oder den Krieg abschaffen? Diese Alternative möchten die Menschen nicht sehen, weil die Abschaffung des Krieges so schwierig ist." Seine allerletzte Unterschrift setzte Einstein unter diese beiden Sätze.

Wenn heute leichtfertig gesagt wird, Putin habe sich durch seinen Angriffskrieg drei Probleme eingehandelt, nämlich eine relativ starke Geschlossenheit der EU, die Nato-Erweiterung im Norden und eine Abkehr vom Pazifismus in Deutschland, so mag dies richtig sein. Doch greift dies viel zu kurz. Extreme Veränderungen für die ganze Welt stehen bevor.

Das globale BIP wird deutlich schwächer werden. Die Bereitschaft, den Klimaschutz in den Entwicklungsländern zu finanzieren, wird schon deshalb sinken, weil die Primärbedürfnisse der Menschen zuerst gedeckt werden müssen. Die geschrumpfte Weltwirtschaft, die Klima- und die Energiekrisen werden zu weltweiten sozialen Krisen, Massenarbeitslosigkeit und Hunger in den Entwicklungsländern führen. Europas Stellung in der Welt wird stark verlieren: militärisch und ökonomisch. Europas Anteil am globalen BIP wird auf das Niveau vor der Industriellen Revolution sinken. Das heißt, wir Europäer werden ärmer und in der Welt bedeutungsloser werden - ein "9/11" für Europa.

China, die Nummer eins der Weltwirtschaft

Spätestens mit diesem Krieg und der Schwächung Russlands und des Westens wird China seine Position als Nummer eins der Weltwirtschaft ausbauen, trotz seiner jetzigen Probleme (Immobilienblase, Covid, Budgetdefizit). Schon heute hat es mit 18,6 Prozent den höchsten Anteil am globalen BIP. Ein Bündnis von Russland und China kann für Westeuropa und die USA zu einem Megaproblem werden: wirtschaftlich, strategisch und geopolitisch.

Die Abhängigkeit der USA, aber vor allem Westeuropas von China übersteigt heute jene von Russland um ein Vielfaches - trotz schwerer Menschenrechtsverletzungen etwa gegenüber den Uiguren. Wer wird China bremsen, wenn es sich weiter in Kirgistan, der Mongolei, Afrika oder Europa, in Triest, Berlin oder Wien festsetzt? Die Hoffnung, für China dauere der Krieg in der Ukraine schon zu lange, weil seine Lieferketten unterbrochen sind, seine Waren nicht abgesetzt werden, die neue Seidenstraße etwas stockt und man im Analogieschluss auf den Südpazifik aufmerksam wird, wo China Ruhe braucht, um störungsfrei Positionen aufzubauen, trügt.

Eine Nahrungsmittelkrise, die vor allem Afrika treffen würde, würde enorme Migrantenströme auslösen, weil die Menschen vor dem Hunger fliehen müssten. Die in der arbeitsteiligen, globalisierten Welt absolut notwendigen weltweiten Lieferketten werden auf Jahre hinaus beschädigt, selbst Holzpaletten dürften Mangelware werden. Und jeder weiß: ohne Paletten keine Lieferketten.

Der Krieg verheert die Wirtschaft der Ukraine. Umfangreiche Hilfen des Westens, monatlich rund 4 bis 5 Milliarden Dollar, verhindern derzeit ihren völligen Zusammenbruch. Noch sind die westlichen Demokratien bereit, diese Beträge zu schultern. Das monatliche Budgetdefizit der Ukraine beträgt rund 5 Milliarden Dollar, also etwa ein Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes. Ein Drittel der Straßen und Bahnlinien sowie an die 500 Brücken sind zerstört, große Städte wie Mariupol sind Ruinen. Ein Wiederaufbau wird riesige Beträge verschlingen. Oleg Ustenko, Wirtschaftsberater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, nannte eine Billion Dollar.

Ein Hauptopfer des Krieges wird auch die russische Welt sein

Auch Russland wird schwer durch den Krieg betroffen, auch wenn derzeit die Einnahmen dank des Öl- und Gaspreises noch sprudeln, Ölrekordverkäufe vor allem in den asiatischen Raum getätigt werden, das Budget für 2022 schon gesichert scheint, der Rubel einen sehenswerten Höhenflug hingelegt hat und die russische Nationalbank dem Finanzembargo sehr geschickt ausweichen konnte. Dennoch wird der Krieg wegen der westlichen Sanktionen die langfristigen Probleme der russischen Wirtschaft weiter potenzieren: ihre Grundstofflastigkeit, den Abfluss von Manpower und Know-how in den Westen, den Bevölkerungsrückgang, die Ausdünnung und Verödung Sibiriens, das geringe Vertrauen im Land in die Qualität der eigenen Produktion, etwa von Autos.

Ein Hauptopfer des Krieges wird auch die russische Welt sein - diese große Kultur, Wissenschaft, Literatur, Musik. Und es wird vielleicht zwei Generationen dauern, bis der Hass zwischen den beiden Brudervölkern abgebaut werden kann. Der russische Historiker Michail Kowaljow schrieb vier Tage nach Kriegsbeginn an die weltweite Historiker-Community: "Der Krieg wird die Schimäre der Russophobie wieder aufleben lassen. Er wird Russen und Ukrainer entzweien."

Ins Kalkül miteinzubeziehen sind freilich die ungeheure Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung, das riesige Staatsgebiet mit Bodenschätzen, die das Land nahezu autark machen und die riesigen alternativen Absatzmärkte in Indien, China, Afrika oder Lateinamerika. Daher werden russisches Gas und Öl in den nächsten Jahren andere Wege finden, vor allem nach China und Indien, während sich Europa viel teurere Energie aus den USA, Norwegen und Arabien - mit allen Sicherheitsrisiken - besorgen muss. Die Energiekrisen der nächsten Jahre werden das soziale und gesellschaftliche Gefüge im Westen stark erschüttern.

Einschränkungen werden jeden Österreicher betreffen

Von Österreich, das ganz besonders von russischer Energie abhängig ist, verlangt die Krise harte Einschnitte. Politik und Medien haben deutlich zu machen, dass Sicherheit ihren Preis hat und Einschränkungen jeden Österreicher betreffen können; dass der gewohnte Lebensstandard darunter leiden und besonders der Mittelstand davon betroffen sein wird. Die Schwachstellen der heimischen Wirtschaft liegen blank da: Auslandsabhängigkeit, enorme Produktionsdefizite, Facharbeitermangel. Eine deutliche Stärkung der Landesverteidigung ist dringlich, auch eine damit abgestimmte Formulierung der Neutralität. Die aktive außenpolitische Mittlerrolle muss weiterentwickelt werden.

Die Zeiten für Österreichs Wirtschaft sind nicht gut: Covid, Ukraine-Krieg, beschleunigter Klimawandel. Die Spirale wird täglich enger: Maschinenteile fehlen, Paletten und Container sind Mangelware, Lieferfristen werden nicht eingehalten, die Bevorratung von Energie stockt, Dünger für die Landwirtschaft fehlt, die Preise steigen. Etwa 70.000 Menschen aus der Ukraine, wenige auch aus Russland, sind zu uns gekommen, meist qualifizierte Flüchtlinge. Sie brauchen Arbeit, Einkommen, vor allem aber eine Perspektive. Die Konjunkturprognosen gehen nach unten. Selbst im Vergleich zum EU-Durchschnitt wird unser BIP jährlich schwächer wachsen, nicht eingepreist sind dabei weitere Migrantenströme. Der heimische Konsum und die Investitionen werden zurückgehen und die Inflation stark steigen mit Auswirkungen auf Kredite, Löhne, Preise und Immobilien.

Jede Krise hat auch Chancen, mit neuen Ansätzen gegenzusteuern: Ausweitung der eigenen Produktionen in der Grundstoff- und Finalindustrie, weitgehende Autarkie bei Energie. Wer denkt an heimische Erdgasvorkommen, etwa in Niederösterreich? Neue Technologien der Montanuni in Leoben könnten sie umweltfreundlicher heben. Denn die Energielieferungen aus Russland werden so schnell nicht zu ersetzen sein. Und wenn, dann wird Energie jedenfalls in den nächsten Jahren knapper werden.

Die Klimaziele erreichen und die Energiewende schaffen

Der Wald als entscheidende Ressource Österreichs und die eigene landwirtschaftliche Produktion sind dringend zu forcieren. Die dadurch verursachte Verteuerung von Produkten, bis hin zu Nahrungsmitteln, Kleidung und Haushaltswaren, wird der Preis für mehr Unabhängigkeit und die Chance sein, von der Wegwerf- zu einer bewussteren Konsumgesellschaft zu kommen. Sparen und Haushalten im öffentlichen Bereich, im privaten Haushalt, im Autoverkehr werden die ersten und wichtigsten Maßnahmen in der zu erwartenden Energiekrise im kommenden Winter sein. Dabei mus Österreich die Klimaziele erreichen und die Energiewende durch einen Mix aus erneuerbarer Energie und Unabhängigkeit schaffen. Und es muss schneller gehen, etwa bei thermischen Sanierungen und beim Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel.

Es wird an Politik, Wirtschaft und auch uns allen liegen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, heute Vorausinvestitionen zu tätigen, die auch ohne den Krieg und seine Auswirkungen dringend sind, um Europa im internationalen Maßstab zu festigen, Misstrauen und Hass abzubauen. Europa hat zwei Lungenflügel, von denen der östliche Russland inkludiert, das nicht vom Kontinent getrennt werden kann. Der Oberrabbiner David Herzog, den die Nazis 1938 mit dem Ertränken in der Mur bedrohten, stellte in Abwandlung eines Zitats aus dem Alten Testament fest: "Nur der hat das Leben wirklich verstanden, der Bäume setzt, unter deren Schatten er niemals mehr sitzen wird."