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Der Geburtstag der "alten Tante"

Von Josef Falkinger

Wissen

Vor 150 Jahren wurde der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gegründet, die erste Arbeiterpartei außerhalb Englands.


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Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) ist aufs Engste mit dem politischen Wirken einer schillernden, aber nicht unumstrittenen Persönlichkeit verbunden: Ferdinand Lassalle (1825-1864). Von den bekannten Arbeiterführern der Revolution von 1848 war er als Einziger nicht ins Exil gegangen, sondern in Deutschland geblieben.

Als "letzter Mohikaner", wie er sich gerne nannte, war Lassalle geradezu prädestiniert für die Rolle des Geburtshelfers einer neuen Bewegung. Es war ein Zufall, der ihn anno 1849 vor der allgemeinen Kommunistenverfolgung, vor Festungshaft und Exil rettete: eine Haftstrafe, die er gerade absaß, weil er in Düsseldorf zur Bewaffnung des Volkes aufgerufen hatte.

In den Jahren nach 1848 versuchte Lassalle, der politischen Linie seines Lehrers Karl Marx folgend, vor allem als Publizist innerhalb der bürgerlich-liberalen Bewegung zu wirken, um eine zweite demokratische Revolution vorbereiten zu helfen. Es kam aber zu einem Ereignis, das diese Strategie völlig zunichte machte, ein Ereignis, ohne das es niemals zur Gründung des ADAV kommen hätte können: Im entscheidenden Augenblick des preußischen Verfassungsstreites von 1862 enttäuschte der politische Liberalismus die in ihn gelegten Erwartungen schwer.

Gärungsprozess

Im Jahr 1862 war Deutschland nach wie vor in 35 Fürstentümer zersplittert, während in England die industrielle Konjunktur frei von feudalen Hemmschuhen Höhenflüge erlebte. Die Niederlage der Revolution von 1848 hatte Deutschland in seiner geschichtlichen und ökonomischen Entwicklung meilenweit zurückgeworfen.

Der Zustand schien unhaltbar, und bereits in den späten 1850er Jahren begann ein neuerlicher politischer Gärungsprozess. 1862 schien die Zeit einer zweiten Revolution gekommen zu sein. Der Preußische Landtag verweigerte dem König die Zustimmung zu neuen Militärausgaben: Erinnerungen an 1848 und 1789 wurden wach. Eine Auflösung des Landtages durch den König und Neuwahlen stärkten die demokratische Opposition nur weiter.

Doch nun geschah das Unerwartete: Der neue Kanzler Bismarck begann die Steuern einfach ohne Zustimmung des Landtages einzuheben. Anders als 1848 schaute der bürgerlich-demokratische Landtag diesem Treiben fassungs- und tatenlos zu. Selbst für die radikalsten Kritiker des Bürgertums kam diese Ohnmachtsdemonstration überraschend.

So waren auch Marx und Engels Ende der 50er Jahre noch davon ausgegangen, dass das liberale Bürgertum bald wieder revolutionär auftreten würde. Sie hielten diese Perspektive sogar nach dem Verfassungsbruch noch bis 1866 aufrecht.

Anders Lassalle. "Soll Genuas großer Mann Genuas großen Fall verschlafen?" An diese Worte des Fiesco mag er sich in jenen Tagen erinnert haben. Er, der im Gegensatz zu Marx die Akteure der Fortschrittspartei aus nächster Nähe kannte, kam zu dem Schluss, dass diese "Herren Bourgeois" nichts mehr fürchteten, als die demokratische Revolution selbst, dass sie niemals auch nur einen Finger für die Demokratie rühren würden - auch wenn zuvor ganze "geologische Erdperioden" ins Land zögen. Die Arbeiter müssten sich unabhängig von den Bürgerlichen an die Spitze der demokratischen Bewegung stellen, so der Schluss Lassalles.

Dies wäre aber nur möglich, wenn eine deutsche Arbeiterpartei die Frage der Demokratie und die Frage der deutschen Einheit mit der eigentlichen Kernfrage des Jahrhunderts verknüpfen würde: mit der Frage der sozialen Emanzipation der Arbeiter.

Entpolitisierung

Auf eine Dreiviertelmillion in Betrieben beschäftigter Arbeiter kamen in Preußen im Jahr 1863 noch über eine Million Handwerker. Der politisch interessierte Arbeiter der 1850er Jahre war oft Handwerker, nicht selten sogar ein selbstständiger Meister (wie etwa der Drechsler August Bebel). Unter den politisch aktiven Manufaktur- und Industriearbeitern spielten gut ausgebildete Facharbeiter die zentrale Rolle.

Es handelte sich dabei meist um Arbeiter mit einer klassischen Handwerksausbildung, die dem Handwerkerstand noch sehr nahe standen: Gürtler, Hutmacher, Zigarrenarbeiter, Riemendreher, Mechaniker, Tischler, Schwertfeger, Böttcher, Messerschmiede, Schneider, Schuhmacher, Zimmerer, Maurer, Bootsbauer, Buchdrucker, usw. Es gab zwar auch Fa-brikarbeiter wie in Manchester, die 16 Stunden täglich unter fürchterlichen Bedingungen eintönigste Tätigkeiten verrichten mussten. Diese waren jedoch meist nicht für eine politische Tätigkeit zu gewinnen - woher sollten sie auch die Zeit dafür nehmen?

Um das politische Bewusstsein dieser Arbeiter war es miserabel bestellt. Nach der Niederlage der 1848er Revolution setzte eine tiefgreifende Welle der Entpolitisierung ein. Sozialistische Ideen spielten im Unterschied zu den 1840er Jahren keine Rolle mehr. Es war die Frage der Deutschen Einheit, die erneut das politische Denken in Schwung brachte.

Das liberale Bürgertum gab noch den Anstoß: Der 1859 entstandene Deutsche Nationalverein und die 1861 gegründete Deutsche Fortschrittspartei versuchten mit Erfolg, die Arbeiter für ihr liberales Programm zu mobilisieren. Arbeiterbildungsvereine wurden von philanthropisch gesinnten Bürgern ins Leben gerufen (so 1861 in Leipzig), um den staatsbürgerlichen, aber auch fachlichen Bildungsstand der Arbeiter zu erhöhen.

Im Jahr 1862 finanzierte der Nationalverein eine Reise von Delegierten der Arbeiterbildungsvereine zur Londoner Weltausstellung. Diese Delegierten, darunter August Bebel, kehrten von dort mit einem Floh im Ohr zurück: der Idee eines gesamtdeutschen Arbeitertages, um die spezifischen Probleme der Arbeiter zu diskutieren.

Bereits Alexis de Tocqueville wusste: Politische Umwälzungen und Neugruppierungen entstehen zuweilen dann, wenn die alten Eliten Erwartungen wecken, die sie nicht erfüllen können. Anfang 1862 konnte sich der liberale Vater der Genossenschaftsidee, Schultze-Delitzsch, noch mit einem gewissen Recht als "König im sozialen Reiche" bezeichnen.

Doch der Verfassungsstreit 1862 änderte alles. Die Arbeiterbildungsvereine befanden sich im Schockzustand. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war eine Anfrage an den Nationalverein, ob er auch Arbeiter als vollwertige Mitglieder aufnehme. Ausgerechnet Schulze-Delitzsch verfasste das ablehnende Schreiben: Als Ehrenmitglieder dürften sie sich zukünftig fühlen - aber ohne Stimmrecht.

Lassalles Programmatik

Der völlig vor den Kopf gestoßene Ausschuss zur Vorbereitung des Arbeitertages wandte sich nunmehr am 11. Februar 1863 verzweifelt an den Publizisten Ferdinand Lassalle, um ihn in einem Brief um Rat zu fragen. Lassalle hatte 1862 durch Vorträge über Verfassungsfragen und über die Arbeiterfrage öffentliches Aufsehen erregt. Politisch interessierte Arbeiter kannten ihn seitdem als konsequentesten Demokraten der Fortschrittspartei und Fürsprecher der Arbeiter unter den Demokraten. Genauso enttäuscht wie die Arbeiter, aber ungleich entschlossener, verfasste er jetzt als Replik sein berühmtes "Offenes Antwortschreiben". Seine zwei engsten Freunde versuchten ihn davon abzuhalten: Er würde damit sein sicheres Todesurteil unterschreiben. Lassalle antwortete mit dem Luther-Zitat: "Hier steh ich nun, und kann nicht anders." Und fügte noch hinzu: "Und möge es mir dreiundsiebzig Mal den Kopf kosten."

In diesem Offenen Antwortschreiben erklärt Lassalle vor allem die Notwendigkeit einer politischen Organisation der Arbeiter, unabhängig von den Organisationen der Liberalen. Er tut dies aber nicht auf Basis abstrakter sozialistischer Prinzipien, sondern setzt beim real existierenden politischen Bewusstsein der deutschen Arbeiter an, das vor allem noch ein demokratisches Handwerkerbewusstsein war.

Lassalle beweist, dass alleine der Arbeiterstand überhaupt in der Lage ist, konsequent für die Demokratie im Allgemeinen und das allgemeine Wahlrecht im Besonderen zu kämpfen. Denn das allgemeine Wahlrecht würde auf Grund der Überlegenheit der großen Zahl irgendwann den Arbeitern und nicht den Bürgerlichen die Macht in die Hände spielen. Die neue Arbeiterpartei sei notwendig, um das einzulösen, was die Fortschrittspartei ursprünglich versprochen hatte.

Massenversammlungen

Dann diskutiert Lassalle die soziale Frage, die er als die entscheidende bezeichnet. Auch hier setzt er beim vorhandenen Bewusstsein an. Unter den politisch denkenden Handwerkern und Arbeitern erfreute sich damals die Haltung des liberalen Arbeiterführers Schulze-Delitzsch großer Beliebtheit: Handwerker und Arbeiter sollten sich zu allen möglichen Formen von Genossenschaften zusammenschließen, um auf diese Weise ihren Lebensstandard zu erhöhen. Vor allen Dingen müssten sie sparen, um Genossenschaftsfonds zu akkumulieren.

Lassalle legt dar, dass auf Grund der niedrigen Ersparnisse der Arbeiter diese Perspektive nicht aufgehen würde. Die Arbeiter könnten nur ihren Lebensstandard verbessern, wenn sie die Kontrolle über ihre Produktionsmittel erlangen würden. Produktionsgenossenschaften müssten jedoch im Konkurrenzkampf gegen die großen Betriebe der Kapitalisten zwangsläufig unterliegen.

Sie hätten nur als Großbetriebe in nationalem Maßstab eine Chance und bräuchten zu diesem Zweck die Unterstützung eines öffentlichen Kreditwesens. Der Staat würde so eine Unterstützung wiederum nur dann garantieren, wenn er von der politischen Partei der Arbeiter mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts erobert werde.

Die Leipziger Führer des Arbeiterbildungsvereins nahmen diese Empfehlungen begeistert auf. Eine Versammlung von 1300 Arbeitern erklärte sich in Leipzig mit zwei Gegenstimmen für das Offene Antwortschreiben. Es folgten Massenversammlungen in Hamburg, Düsseldorf, Solingen, Köln und Wuppertal. Der Arbeitertag sollte in einen Gründungsparteitag eines allgemeinen deutschen Arbeitervereins auf der Grundlage der Programmatik Lassalles umfunktioniert werden. Am 23. Mai 1863 wurde der ADAV, die erste Arbeiterpartei am europäischen Festland, im Leipziger Pantheon aus der Taufe gehoben.

Josef Falkinger, geboren 1981, lebt in Wien und arbeitet als Wirtschaftsstatistiker und Journalist für Wissenschaftsthemen.