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Der geistvolle Autokrat

Von Friedrich Weissensteiner

Wissen

Vor 200 Jahren wurde Otto von Bismarck geboren, der als deutscher Reichskanzler die Politik des 19. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat.


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In Hamburg steht das weltweit größte Denkmal für den "Eisernen Kanzler".
© Foto: Christoph Braun/Wikipedia

Er war einer der bedeutendsten Staatsmänner in der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Dieses Urteil wird man heute aus der Distanz und dem Wissen der Zeit fällen können. Wiewohl historische Urteile keineswegs Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen können und sollen. Ganz im Gegenteil. Sie hängen von allen möglichen Komponenten ab, von ideologischen Standpunkten und Aspekten, von geopolitischen Standorten, von Zeitströmungen und anderen subjektiven Faktoren. Sie haben eine unberechenbare Variationsbreite. Im Fall Bismarck dürfte das Urteil doch auf breite Zustimmung stoßen. Es ist ja auch keineswegs neu und schon gar nicht originell.

Von gewaltiger Statur

Otto von Bismarck, geboren am 1. April 1815, war ein Hüne (er maß einen Meter neunzig, sein Gewicht schwankte zwischen einhundert und einhundertzwanzig Kilogramm) und eine eindrucksvolle Erscheinung. Sein mächtiger Kopf mit der hohen, breiten, sich vorwölbenden Stirn wurde von buschigen Augenbrauen, einer markanten Nase und einem breiten Schnurrbart beherrscht.

Er beeindruckte seine Zeitgenossen aber auch durch seine hohen Geistesgaben und seinen untrüglichen politischen Instinkt. Bismarck war ein Gigant, der das Mittelmaß seiner Umgebung und seiner nationalen und internationalen Gegenspieler bei weitem überragte. Der erste deutsche Reichskanzler hielt in den Jahrzehnten seiner politischen Tätigkeit (1862 bis 1890) Europa in Atem, bestimmte das Geschick des Kontinents und pflügte die politische Landschaft um.

Die Triebkräfte seines Handelns lagen naturgemäß in seiner Herkunft, seiner Erziehung und seinem Wesen beschlossen. Bismarck entstammte dem ostelbischen Großbesitzertum, einem mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit und politischen Privilegien ausgestatteten Stand, der diese Vorrechte als gottgewollte Ordnung verstand und gegen die vorherrschenden liberalen und gesellschaftlichen Zeitströmungen mit anachronistischer Verbissenheit verteidigte. An diesem ständeschaftlichen Herrentum hielt Bismarck zeitlebens fest. Der herrische, machtbesessene Junker schaute auf die Besitzlosen mit spöttischer Verachtung herab. Soziales Gewissen plagte ihn nicht.

Bismarcks geliebte Hunde wurden gerne als "Reichshunde" bezeichnet.
© Foto: Wikimedia Commons

Otto von Bismarck war eine vielseitige, vielschichtige Persönlichkeit. Ein messerscharfes Psychogramm von ihm zu zeichnen, verlangt introspektive Fähigkeiten, kombiniert mit sprachschöpferischer Darstellungskunst. Ich gebe aus diesem Grund einem Historiker das Wort, der mit dem reichen Erbe seines Vaters ausgestattet, beides in seiner Person vereinigte: Golo Mann.

Der ostelbische Junker sei geistreich, kampf- und lebensfreudig, hochmütig und witzig gewesen, urteilt er im achten Band der von ihm herausgeberisch betreuten Weltgeschichte und weiter: "Bismarck war aggressiv und bereit, die Dinge zu forcieren; auch bescheiden . . . Er war brutal und ein Höfling von den vollkommensten Manieren, ein geistreicher Causeur; kraftvoll, Jäger und Waldmann, doch auch wieder den Landjunker spielend, nervös und kränkelnd; Ehrenritter und mit allen Wassern gewaschener Politiker, Royalist und Rebell. Er war ein verwegener Spieler, aber auch ernst und fromm und trug schwer an schweren Verantwortungen. Er war machthungrig und plagte sich und die Welt mit einem überstarken Egoismus; aber auch fähig, Zwecken zu dienen, die weit über ihn hinausgingen, und mit ihnen zu wachsen."

Nach einem Jus-Studium in Göttingen und Berlin, einigen Jahren im preußischen Staatsdienst, einem ausschweifenden Junkerleben, einer kurzzeitigen Tätigkeit als Abgeordneter beim Bundestag in Frankfurt am Main und als Gesandter in St. Petersburg und Paris wurde Bismarck 1862 von König Wilhelm I. zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt.

Machtbewusstsein

Mit dieser Berufung begann seine große politische Karriere. Sogleich bewies der 47-Jährige seine Entschlusskraft und sein Machtbewusstsein. Er war erst eine Woche im Amt, als er den Abgeordneten der Budgetkommission zurief: "Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, das ist der große Fehler von 1848 und 1849, sondern durch Eisen und Blut."

Den drastischen Worten folgte unmittelbar darauf die Tat. Skrupellos beendete Bismarck den Streit um die Heeresreform zwischen dem König und dem Landtag durch einen glatten Verfassungsbruch. In den folgenden Jahren fokussierte er seine titanische Willenskraft auf ein lange gehegtes Ziel: die Schaffung eines deutschen Nationalstaates unter preußischer Führung. Dass dieses Ziel nur mit Waffengewalt zu erreichen war, nahm er in Kauf.

Der erste Gegner, den es auszuschalten galt, war der habsburgische Vielvölkerstaat. Bismarck steuerte auf den Waffengang gezielt zu. Am 3. Juli 1866 besiegten die Preußen die Österreicher in der Schlacht von Königgrätz. Es war nicht nur das blutigste, sondern auch das folgenschwerste Gemetzel des 19. Jahrhunderts. Der Machtkampf um die Vormachtstellung in Mitteleuropa, der bis auf die Zeit Maria Theresias und König Friedrich II. zurückgeht, war damit entschieden. Bismarck war klug und weitblickend genug, den besiegten Gegner gegen den erbitterten Widerstand seitens des Königs und der Militärs nicht zu demütigen.

Nach dem Waffengang mit Frankreich 1870/71, den er durch machiavellistisches Machtgehabe und mit diplomatischen Finten (Emser Depesche!) geschickt inszenierte, agierte er diametral entgegengesetzt. Die Ausrufung des Deutschen Kaiserreiches am 18. Jänner 1871 im Spiegelsaal des Schlosses Versailles war eine ungeheure Demütigung Frankreichs. Von nun an wurde die Geschichte Europas vom tief gehenden Feindschaftsverhältnis zwischen den beiden Nationen geprägt, das erst nach den beiden Weltkriegen allmählich und mühsam abgebaut werden konnte.

Der "ehrliche Makler"

In den folgenden Jahrzehnten, in denen das Deutsche Reich zur führenden Industrienation Europas aufstieg, versuchte der Reichskanzler mittels eines gefinkelten Bündnissystems sein politisches Lebenswerk abzusichern. Der Berliner Kongress des Jahres 1878, bei dem er nach dem Russisch-Türkischen Krieg die Rolle des "ehrlichen Maklers" übernahm, sah Bismarck auf dem Höhepunkt seiner Karriere.

In der Innenpolitik unterliefen dem ostelbischen Junker schwere Fehleinschätzungen. Noch im Jahr der Reichsgründung entfesselte er einen "Kulturkampf" gegen den politischen Katholizismus, den er für reichsfeindlich hielt. Der Jesuitenorden wurde aufgehoben, die konfessionellen Schulen staatlicher Aufsicht unterstellt, zahlreiche Bischöfe und Geistliche ihres Amtes enthoben.

Der Reichskanzler ergriff auch einschneidende Maßnahmen gegen die Sozialdemokraten, die er für "vaterlandslose Gesellen" hielt. Die Ausgrenzung politisch Andersdenkender und ihre Stigmatisierung zu Reichsfeinden, die Verachtung, die Bismarck den Parteien und dem Parlament entgegenbrachte, waren eine riesige Hypothek für die weitere gesellschaftliche und politische Entwicklung Deutschlands.

Autoritär und souverän

Bismarcks Partei bestand aus zwei Personen: aus dem Kaiser und ihm selbst. Der Reichskanzler war nur dem Souverän gegenüber verantwortlich, er war nicht auf das Vertrauen des Reichstages angewiesen, es gab auch keine Ministerverantwortlichkeit der Volksvertretung gegenüber. "Bismarck macht Deutschland groß und die Deutschen klein", klagte der Liberale Georg von Bunsen, und der Althistoriker Theodor Mommsen sprach von der Knechtung der Persönlichkeit und des deutschen Geistes in der Bismarck-Ära. Dieses Verhängnis, meinte er, sei nicht wieder gutzumachen.

Nach 1945 sahen ihn manche Historiker als Wegbereiter Hitlers. Das war freilich weit über das Ziel geschossen. Der zivilisierte Gutsbesitzer aus Schönhausen bei Magdeburg hatte mit dem Größenwahnsinnigen aus Braunau am Inn gar nichts gemeinsam. Er war kein Rassenfanatiker und kein großdeutscher Nationalist, sondern ein durch und durch preußischer Royalist.

Mit dem Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1890 ging Bismarcks Ära zu Ende. Den jungen, selbstbewussten Kaiser und den machtbewussten alten Reichskanzler trennten Welten. Otto von Bismarck verließ die Kommandobrücke und zog sich auf seinen Herrensitz im lauenburgischen Friedrichsruh in der Nähe von Hamburg zurück. Umsorgt von seiner Gattin Johanna, die ihm zwei Söhne und eine Tochter geschenkt hatte, empfing er zahlreiche neugierige Besucher und diktierte seinem langjährigen Vertrauten Lothar Bucher seine dreibändigen Memoiren "Gedanken und Erinnerungen", in denen er sich als Meister der Sprach- und Wortkunst erwies.

Otto von Bismarck war zeitlebens ein unmäßiger Esser und ein übermäßiger Genießer erlesener Weine und Schnäpse. Das Unmaß gehörte zu seiner Natur. Sein aus Bayern stammender Leibarzt Ernst Schweninger hatte alle Mühe, die Ess- und Trinkgewohnheiten seines Schützlings zu mäßigen und ihn dazu anzuhalten, den Tag richtig einzuteilen und sich regelmäßig zu bewegen. Der Reichskanzler war ein Hypochonder. Er litt an Verdauungsstörungen, an Magen-, Hüft- und Beinschmerzen. Er wurde von Gesichtsneuralgien und Schlaflosigkeit geplagt, sodass er oft monatelang seinen Amtsgeschäften nicht nachgehen konnte. Er neigte zu vulkanischen Zornausbrüchen, in äußerst spannungsgeladenen Situationen wurde er von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt.

Bismarck liebte die Natur. Pferde und Hunde standen seinem Herzen näher als Menschen, urteilten manche seiner Zeitgenossen, die allerdings nicht unbedingt zu seinen Bewunderern zählten. Der Tod seiner im Pietismus verwurzelten Frau am 27. November 1894 brach seine überbordende Vitalität, und zwar endgültig. Der Staatsmann starb am 30. Juli 1898. Sein Leichnam wurde ohne jenen unnötigen Pomp, den er nicht mochte, in Friedensruh in einem Mausoleum beigesetzt. Das große politische Werk, das er schuf, hatte nur etwas mehr als vier Jahrzehnte Bestand. Es wurde im Ersten Weltkrieg zertrümmert.

Friedrich Weissensteiner, Dr.phil., Hofrat, war Gymnasialdirektor und ist Autor vieler historischer Bücher: u.a. "Die Frauen der Genies", "Die rote Erzherzogin".