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Der gekidnappte Krieg im Norden Syriens

Von Petra Ramsauer

Politik

Die Türkei fürchtet, dass die Kurden die vollständige Kontrolle über Nordsyrien erlangen könnten. Sie verschärft daher die Angriffe auf kurdische Milizen im Umland von Aleppo. Mehr als 100.000 Flüchtlinge sind im Chaos des Bürgerkrieges hier schon gestrandet.


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Kilis. Lediglich zehn Kilometer Luftlinie liegen zwischen der südtürkischen Stadt Kilis und Azaz, der Grenzstadt im äußersten Norden Syriens. Artilleriefeuer leuchtet am Nachthimmel zwischen den beiden Städten derzeit in bedrohlicher Regelmäßigkeit auf. Mit jeder Nacht erhöht sich die Frequenz der dumpfen Einschläge; fast immer kommt der Angriff aus der Türkei. Immer mehr Soldaten und schweres Kriegsgerät werden von der türkischen Armee nach Kilis verlegt. Der nächste Kleinkrieg im Syrien-Krieg hat also begonnen.

Ob er allerdings "klein" bleiben wird, darf bezweifelt werden. Einen "Miniweltkrieg", der in den Weizenfeldern und Olivenhainen der Grenzregion toben würde, nannte die "Washington Post" diese neue Front. Neu sind Angriffe der Türkei auf die Kurden-Milizen in Syrien nicht: Weiter im Osten und im Nordirak werden bereits seit Monaten Luftschläge geführt. Doch die Eskalation des Konfliktes zwischen der Türkei und den kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG, den bewaffneten Verbänden der syrischen Kurdenpartei PYD, eine Schwesterpartei der türkischen Arbeiterpartei PKK, hat sich nun in eine neuralgische Zone des Syrien-Konfliktes verlagert: Kilis liegt lediglich 80 Kilometer nördlich von Aleppo.

Hier und im Umland ist seit Anfang Februar eine Offensive des syrischen Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland, Iran und libanesischer Hezbollah-Miliz im Gange. Zuletzt konnte das Regime von Machthaber Bashar al-Assad zahlreiche strategisch wichtige Dörfer und Straßen erobern. Doch nicht nur sie. Im Schatten der enormen Schwächung der Rebellen der "Freien Syrischen Armee" (FSA) gelang es kurdischen Milizen, allen voran der YPG, hier ebenfalls Terrain zu gewinnen. Und nur etwa sechs Kilometer östlich von Azaz endet das von der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) gehaltene Gebiet.

Der Kampf um Azaz wird zum Knackpunkt des Syrien-Konfliktes. Inmitten dieses Chaos sind in der Stadt und in der angrenzenden Region mehr als 100.000 Menschen gestrandet: Sie stammen zum Großteil aus Aleppo und den angrenzenden Siedlungen, sind vor Assads Bomben gegen die FSA-Stellungen auf der Flucht. Die Türkei ließ die Grenzen jedoch zu. Rund um den Grenzübergang Bab al Salam, der exakt zwischen Kilis und Aleppo liegt, sind mehr als ein Dutzend Vertriebenenlager entstanden. Doch es reicht längst nicht für alle. Tausende Familien schlafen hier auf Feldern, in Hinterhöfen und am Gehsteig. Gestrandet zwischen allen Fronten. Hilfe bekommen sie vor allem von der türkischen Hilfsorganisation "IHH". "Wir tun, was wir können", sagt Abdulsalam al-Shareef, Leiter der Hilfe in und um Azaz, der "Wiener Zeitung": "Wir liefern täglich 25.000 Mahlzeiten, stellen Zelte auf, installieren Sanitäranlagen. Nur eines muss klar sein: Genug ist genug. Wir lassen keine Leute mehr in die Türkei. Nur absolute medizinische Notfälle". Der polyglotte Profi in Sachen humanitäre Hilfe lässt dann auch eine sehr deutliche Spitze durchklingen: "Wissen Sie, wir in der Türkei haben auch eine Obergrenze. Wir haben bereits 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen".

Somit bleiben die Grenzbalken in Bab al Salam geschlossen: Und während die Vertriebenen hier auf irgendeine Veränderung ihrer Lage warten, donnern schwere Geschütze über ihre Köpfe. Die Waffenruhe der Konfliktparteien ist zur leeren Worthülse verkommen; selbst der Termin für die Fortsetzung der Genfer Friedensgespräche am 25. Februar werde nicht halten, sagte UN-Syrien-Sondergesandter Staffan de Mistura. Daran ändert auch die wachsende Dramatik in und um Aleppo nichts. Während es der UNO und internationalen Helfern zuletzt gelungen ist, in fünf der insgesamt 18 belagerten Regionen Syriens dringend benötigte Hilfslieferungen zu bringen, entsteht hier eine Krise, die zur schwersten des Konflikts werden könnte.

"Familien schlafen im Auto"

Der Belagerungsring um Aleppo schließt sich zunehmend; hier leben nach wie vor zirka 400.000 Menschen. Gleichzeitig schwillt die Zahl der Vertriebenen, die es irgendwie bis Azaz schaffen, an. Die Lager um die Stadt, selbst jene, die direkt im Niemandsland hin zur Türkei liegen, sind für ausländische Reporter nicht zugänglich. So gibt es nur sporadische Berichte. "Es fehlt an Zelten. Ich höre von Familien, die nun schon seit zwei Wochen in ihren Autos leben. Manche haben nicht einmal das und schlafen, auch mit Kleinkindern, in Mäntel gehüllt", erzählt Ahmad Nahel. Der Syrer aus Azaz hat aus Eigeninitiative eine notdürftige Suppenküche für die Flüchtlinge organisiert. "Wir brauchen dringend eine Schutzzone in dieser Region", ergänzt IHH-Koordinator al Shareef: "Wenn die Luftschläge der Assad-Regierung und Russlands bis Azaz reichen, droht eine Katastrophe angesichts der mehr als 100.000 Menschen, die dort jetzt Zuflucht suchen."

Auch Recep Tayyip Erdogan fordert eine solche Schutzzone, die bis zur Stadt Azaz reichen soll. Aus humanitären Gründen, wie der türkische Präsident betont. Doch nicht nur deshalb, mutmaßt ein Sprecher der FSA, der in der Türkei lebt und nicht namentlich zitiert werden will: "Wenn kein Wunder geschieht, wird die YPG bald auch Azaz und das Umland einnehmen. Gelingt es ihnen, dann ist die syrische Grenzregion zur Türkei gänzlich unter kurdischer Kontrolle." Deshalb verfolge Erdogan trotz Bedenken des gesamten Westens einschließlich des UN-Generalsekretärs Ban Ki Moon derzeit nicht bloß die Idee der Schutzzone.

TAK bekennt sich zu Anschlag

Immer klarer werde auch die Ankündigung einer Bodenoffensive bis Azaz. Unterstützung hat hier Saudi-Arabien zugesagt, doch es wird gemutmaßt, dass die Türkei dies auch im Alleingang umsetzen könnte. Auf so eine Intervention scheint sich Ankara unüberhörbar seit dem Anschlag auf einen Militärkonvoi in Ankara einzustimmen. Zu dem Attentat hat sich am Freitag die aus der PKK hervorgegangene kurdische Terrorgruppe TAK bekannt. "Wir haben im Herzen des faschistischen türkischen Staates in Ankara zugeschlagen", teilten die TAK ("Freiheitsfalken Kurdistans") am Freitag auf ihrer Homepage mit.

Die Zeit scheint für Erdogan zu drängen. Würde die Stadt Azaz vom Assad-Regime oder - was wesentlich wahrscheinlicher scheint - von kurdischen Milizen eingenommen, fällt eine der letzten zentralen Bastionen der FSA.

Auf welcher Seite die YPG tatsächlich im syrischen Bürgerkrieg steht, war zuletzt unklar. Sehr deutlich wahrzunehmen waren hingegen die rasanten Gebietsgewinne in der für diesen Konflikt so entscheidenden Zone zwischen Aleppo und der türkischen Grenze in den vergangenen Tagen. Von den USA als wichtiger Partner im Krieg gegen den IS unterstützt, liefern sich Syriens Kurden nun Gefechte mit der ebenfalls vom Westen unterstützten FSA; dies noch dazu mit Waffen, die der Westen an beide Seiten lieferte. "Wir betrachten sie derzeit als Feind, genauso wie Daesh (Akronym für IS) und das Regime Assad", sagt Mohammed al-Ahmed, FSA-Sprecher in Kilis. Somit rückt die Grenzregion in den Fokus des Syrien-Konfliktes. Die Autobahn, die von Kilis über Azaz bis nach Aleppo führt und einst eine zentrale Handelsroute war, ist heute die Lebensader der Aufständischen um Aleppo.

In Azaz, der einstigen 90.000 Einwohner-Stadt, hat sich die Bevölkerung seit 2011 verdoppelt: 65 Prozent sind dazu gekommen, fast alles sind Flüchtlinge aus Syrien. Würde die Freie Syrische Armee Azaz und Aleppo aufgeben müssen, rechnen die türkischen Behörden mit weiteren 600.000 syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen. "Dann wäre", sagt Mohammed al-Ahmed von der FSA, "kein arabischer Syrer mehr in dieser Region. Und das Gebiet wäre rein kurdisch." Und diese Angst der Türkei sei der Hintergrund, dass die Armee des Landes trotz der Gefahr eines "Miniweltkrieges" von Kilis aus eine Offensive im Alleingang planen könnte. Und dies, wie er meint, "bald".