Zum Hauptinhalt springen

Der geordnete Freigeist

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen
Kant (blaue Jacke) und seine Tischgenossen, Gemälde von Emil Doerstling (1892).
© Wikimedia

Die Philosophie des Aufklärers Immanuel Kant ist nach wie vor aktuell: In Wien findet ein großer internationaler Kant-Kongress statt. Hier eine kleine Einführung in sein Denken.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten und nichts wird mich hindern, ihn fortzusetzen". Mit großem Selbstbewusstsein formulierte der 22-jährige Immanuel Kant in seiner Erstlingsschrift "Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" die Programmatik, die sein gesamtes Leben bestimmte. Der Weltbürger aus Königsberg forderte die Menschen dazu auf, sich aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit" zu befreien. Unter Unmündigkeit verstand Kant die kritiklose Aneignung von politischen Programmen oder von religiösen Dogmen, die er als "bloßen Religionswahn", "Afterdienst" und "Fetischdienst" bezeichnete.

Um nun diese Unmündigkeit zu überwinden, empfahl Kant ein Rezept: das Selbstdenken, "das heißt, den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst suchen". Hat man diesen Probierstein gefunden, wird man ein mündiges Mitglied der Gesellschaft, das selbstverantwortlich und moralisch handelt. Kants Philosophie kann als Aufforderung verstanden werden, diesen Ratschlag in die Praxis umzusetzen. Für ihn ist der Mensch ein frei handelndes Wesen, das die Möglichkeit hat, sein Leben selbst zu gestalten - nach der Devise: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen". Jedes Individuum sollte aus eigenen Kräften seinen Beitrag zur Entfaltung der menschlichen Kultur leisten. Das bedeutet aber auch, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.

Aus krummem Holz

Kant wies auch auf ein Defizit hin, das die Unmündigkeit mit sich bringt. Es betrifft politische Systeme, die daran interessiert sind, ihre Staatsbürger möglichst in Unwissenheit zu belassen: "Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen, allein zu gehen", schrieb Kant. Er war ein viel zu genauer Beobachter der menschlichen Schwächen, um daran zu glauben, dass sein Aufruf für ein durch Vernunft geleitetes Leben den Idealtypus eines "guten" Menschen hervorbringen würde. Er war nicht so naiv wie der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau, der die Zivilisation für die Korrumpierung der Menschen verantwortlich machte. Kants Ausgangspunkt war vielmehr der Satz: "Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden."

Geboren wurde Immanuel Kant am 22. April 1724 als viertes von neun Kindern einer Handwerkerfamilie in Königsberg. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und erhielt - nach einer Tätigkeit als Hauslehrer - 1755 eine Privatdozentur an der Universität Königsberg. Erst 1770 erhielt er eine Professur, die ihm ein finanziell sorgenfreies Leben ermöglichte.

Kants Vorlesungstätigkeit erstreckte sich von der Metaphysik, Moralphilosophie, Mathematik, Anthropologie bis zu Geografie und Pädagogik. Berufungen an andere Universitäten lehnte er ab - mit der Begründung: "Alle Veränderung macht mich bange".

Auch in seinem Alltagsleben zeigte sich Kant gegen Veränderungen resistent: Jahrzehnte lang begann sein Tagesablauf kurz vor fünf Uhr, von sieben bis neun Uhr hielt er Vorlesungen. Danach arbeitete er bis zum Mittagessen an seinen eigenen Schriften. Das Mittagessen, das mehrere Stunden dauerte, nahm Kant mit Freunden ein. Kant war davon überzeugt, dass "allein zu essen für einen philosophierenden Gelehrten ungesund" sei. Die Mahlzeiten, die aus Suppe, Fleischspeisen und einem Dessert bestanden, verliefen in geselliger Atmosphäre; Gespräche über die akademische Philosophie waren jedoch ausdrücklich verpönt. Nach der Mahlzeit begann er pünktlich um sechzehn Uhr einen ausgedehnten Spaziergang und arbeitete dann noch einmal bis einundzwanzig Uhr.

Die drei Hauptwerke

Erst im 57. Lebensjahr wurde Kants epochemachendes Werk "Kritik der reinen Vernunft" pu-bliziert. In rascher Folge erschienen "Die "Kritik der praktischen Vernunft" und "Die Kritik der Urteilskraft". Im Mittelpunkt der Philosophie Immanuel Kants stehen grundsätzlich drei Fragen: "Was kann ich wissen?", "Was soll ich tun?", "Was darf ich hoffen?". Diese Fragen der theoretischen Vernunft, der Ethik und der Ästhetik erörterte er in seinen drei Kritiken. Den Publikationen - speziell der "Kritik der reinen Vernunft" - war kein großer Pu-blikumserfolg beschieden. Der Grund dafür war Kants komplizierte Schreibweise.

In der "Kritik der reinen Vernunft" machte er den Versuch, das Vermögen der Vernunft mit ihren eigenen Mitteln zu überprüfen. Deswegen befasste er sich vorerst mit den philosophischen Voraussetzungen, die seinem kritischen Denken vorausgingen. Er wandte sich gegen den Rationalismus, der ein reines Denken propagiert, aber auch gegen den Empirismus, für den bloß die sinnliche Erfahrung zählt. Erst das Zusammenspiel der empirischen und rationalen Grundquellen ermöglicht Erkenntnis. "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind", propagiert Kant.

Das "Ding an sich"

Der Verstand bringt nun mittels der Begriffe Ordnung in das Chaos der Sinneseindrücke. Durch die Vernunft erfolgt eine Synthese von Sinneseindrücken und begrifflicher Ordnung, die die Einheitlichkeit des Denkens stiftet. Dieses Denken ist nicht imstande, die Objekte, wie sie sind, als "Dinge an sich" zu erkennen, sondern nur durch die apriorische Brille der Vernunft. So produziert unsere Erkenntniskraft nicht die Welt, wie sie an und für sich ist, sondern wie sie unserem Bewusstsein gegeben ist.

Will die Vernunft jedoch über das "Ding an sich", also über das Wesen der Wirklichkeit, etwas aussagen, verwickelt sie sich in Widersprüche. Die klassischen Probleme der Metaphysik wie Gott, Unsterblichkeit, Seele oder Freiheit entziehen sich dem Geltungsbereich der Vernunft; sie kann keine kompetenten Aussagen über diese metaphysischen Prinzipien liefern. Das "Ding an sich" ist für uns nicht erreichbar. Diese revolutionäre Einsicht Kants - die "Kopernikanische Wende" der Philosophie, die eine Destruktion der metaphysischen Werte bewirkte - war für Kants Zeitgenossen ein Schock; ihm wurde vorgeworfen, als "Alleszermalmer" zu agieren.

Durch den Einfluss der Schriften von Jean-Jacques Rousseau verlagerte Kant den Schwerpunkt seiner philosophischen Reflexionen auf die Ethik und die menschliche Lebenswelt. Sein zweites Hauptwerk, "Die Kritik der praktischen Vernunft" (1788), geht von dem empirischen Ich aus, das vom Prinzip der Vernunft geleitet wird. Gemäß seiner Ansicht, dass der Mensch aus krummem Holz geformt ist, postuliert Kant ein allgemeines Sittengesetz, das stets ein Sollen ausdrückt. Durch die Befolgung des Sittengesetzes erhält der mit Vernunft begabte Mensch die Möglichkeit, sein chaotisches, anarchisches Triebpotential zu kanalisieren und zu nobilitieren, indem er einen Charakter ausbildet, "den er sich selbst schafft".

Universelle Ethik

Kant entwickelte eine universelle Ethik, die von den empirischen Unzulänglichkeiten absah. Als deren oberstes Prinzip formulierte er das Grundgesetz der praktischen Vernunft - den "Kategorischen Imperativ", an dem sich das Handeln der Menschen orientieren sollte: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!"

Der universalistische Charakter des Sittengesetzes stieß schon bei den Zeitgenossen auf Widerstand; es wurde als leere Begriffsabstraktion verstanden. Später sprach Friedrich Nietzsche von einem "Hirngespinst", Moritz Schlick bezeichnete Kants Kons-truktion als "Verstoß gegen die psychologischen Tatsachen" und die Kantkritiker Hartmut und Gernot Böhme verstiegen sich sogar zu der Behauptung, "solche Manöver" seien "aus Wahnsystemen gut bekannt". Für Kant war das allgemeine Sittengesetz jedoch der Höhepunkt seiner philosophischen Tätigkeit. "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung", bekannte er, "der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir".

In seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" zeigt Kant am Beispiel des Weltbürgerrechts, wie das Sittengesetz konkret anzuwenden ist. Das Weltbürgerrecht bezieht sich auf das Recht jedes Fremden auf eine weltweit zu erfolgende "Hospitalität". Auf die gegenwärtige Situation übertragen, bedeutet diese Forderung, dass Menschen, die um Asyl ansuchen, weder feindselig behandelt noch abgewiesen werden sollen, wenn sie in ihrem Heimatland bedroht werden. Dieses Gastrecht kann jedoch aufgehoben werden, sobald keine Gefährdung für die Betroffenen mehr besteht. Kants Philosophie ist somit von höchster Aktualität.

Literaturhinweis:Immanuel Kant: Werkausgabe in 12 Bänden. suhrkamp taschenbuch wissenschaft, auch einzeln erhältlich.

Nikolaus Halmer, geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.

12. Internationaler Kant-Kongress in Wien



Vom 21. bis 25. September findet an der Wiener Universität ein Kant-Kongress mit dem Rahmenthema "Natur und Freiheit" statt. Die Tagung wird von der Universität Wien und der Kant-Gesellschaft veranstaltet.

Der Internationale Kant-Kongress findet alle fünf Jahre mit großer Beteiligung aus dem In- und Ausland statt, und versteht sich als Forum der Kant-Forschung. Rund 600 Philosophen und Philosophinnen aus über 45 Nationen werden kommende Woche in Wien erwartet.



Ansprechpartnerin:Mag. Dr. Sophie Gerber, Universität Wien, Institut für Philosophie, Universitätsstraße 7, 1010 Wien.kant2015@univie.ac.athttps://kant2015.univie.ac.at/