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Der gewaltlose Widerstand

Von Werner Hörtner

Reflexionen

Die Nasa, das zweitgrößte indigene Volk Kolumbiens, kämpfen ohne Waffen um territoriale Autonomie. Und das in einem Land, dessen bewaffneter Konflikt seit über einem halben Jahrhundert andauert.


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Die Fotos gingen damals um die ganze Welt, als eine Gruppe von Nasa im südlichen Kolumbien in einen Stützpunkt der Armee eindrangen und die Soldaten händisch wegtrugen. Der Stein des Anstoßes war, dass das Militär die Basis auf einem den Indigenen heiligen Berg errichtet hatte, und die Nasa keine bewaffneten Akteure auf ihrem Gebiet dulden.

Die kolumbianischen Medien verwendeten die Fotos, auf denen weinende Soldaten zu sehen waren, zu einer Kampagne gegen die Nasa wegen "Erniedrigung der Armee". "Die haben wegen den Tränengasgranaten geweint, die sie selbst verschossen haben", erläutert Arquímedes Vitonás lachend. Und er erzählt, wie Mitte Juli des vergangenen Jahres Hunderte Frauen und Männer aus der Kleinstadt Toribío wütend auf den Berg gestiegen waren, die Soldaten aus der Militärbasis gepackt und aus dem Lager herausgetragen hatten. Sie wollten damit deutlich machen, dass sie keine bewaffneten Einheiten auf ihrem Territorium dulden, egal, von welcher Seite diese kommen.

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"Wir sind die Macht des Friedens": Die "Indigene Wacht" der Nasa plädiert für gewaltfreie Selbstverteidigung.
© Foto: Comunidad Indígena Colombiana

Arquímedes Vitonás Noscué war von 2003 bis 2007 Bürgermeister von Toribío, heute ist er Leiter der Universität Cauca-Nord in Santander de Quilichao, eineinhalb Autostunden entfernt in der Ebene gelegen. Er selbst und Projekte der Nasa wurden von der UNESCO und vom UN-Entwicklungsprogramm UNDP ausgezeichnet; Vitonas wird immer wieder in andere lateinamerikanische Länder, nach Europa und Asien eingeladen, um das Weltbild und Wissen der Nasa sowie ihre Form des gewaltlosen Widerstandes vorzustellen.

Das "Projekt Nasa"

Im Departement Cauca entwickelte sich die wichtigste indianische Widerstandsbewegung der jüngeren Zeit, der CRIC, der Regionale Indio-Rat des Cauca. Er wurde 1971 in Toribío mit folgenden Zielsetzungen gegründet: Rückeroberung der Reservate bis zu der Größe, wie sie in der Verfassung von 1890 festgelegt worden war, Abschaffung der Pachtzahlungen, Stärkung der indianischen Dorfräte, der Cabildos, und Wiederbelebung der eigenständischen kulturellen Traditionen.

Aus dem CRIC entwickelte sich später das sogenannte "Projekt Nasa", das heute die führende indianische Alternative für ein neues, friedliches Kolumbien darstellt. Dieses Projekt umfasst verschiedene Produktionsbereiche, wie eine Forellenzucht, Milchkühe oder Heilmittelerzeugung. Und es hat auch eine soziale und politische Dimension. Das "Radio Nasa" sendet täglich von 5 bis 19 Uhr und bietet rund 40.000 Hörerinnen und Hörern Musik, Unterhaltung, interessante Informationen - und auch die Möglichkeit, mitzureden und mitzugestalten.

Das "Projekt Nasa" umfasst ferner Programme zur Unterstützung von Familien in Sachen Erziehung, Ernährung, Gesundheit und Berufsausbildung für Jugendliche. Seit Jänner gibt es auch Kurse für Kleinkinder zum Erlernen des Yuwe, ihrer ursprünglichen Sprache, deren Kenntnis in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen ist.

In dem Kampf der Nasa um ihre verbrieften Rechte und für eine selbstbestimmte Entwicklung ist viel Blut geflossen. Hunderte indigene Aktivisten und Zivilisten wurden von staatlichen Sicherheitskräften und von paramilitärischen Söldnern im Auftrag der Großgrundbesitzer umgebracht. Und wegen ihrer Weigerung, mit der in dieser Region stark präsenten FARC-Guerilla, der größten Aufständischenbewegung Kolumbiens, zusammenzuarbeiten, werden die Nasa auch immer wieder von der Guerilla angegriffen.

Doch trotz des hohen Blutzolls, den die Bevölkerung in diesem Krieg, der nicht der ihre ist, entrichten muss, sind den Menschen Begriffe wie Rache und Vergeltung fremd. Als würden diese in ihrem Sprachschatz gar nicht existieren. So wurde etwa ein Bruder von Arquímedes Vitonás von den FARC ("Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens") entführt und ermordet. Doch Arquímedes Vitonás versteht die sozialen Ursprünge ihres Kampfes, auch wenn sie sich später oft von diesen Wurzeln entfernt haben. Er selbst wurde von dieser Guerilla-Organisation ebenfalls einmal entführt: "Anfang August 2004, ich war bereits Bürgermeister von Toribió, fuhren ich und mein Vorgänger in diesem Amt, Gilberto Múñoz, in eine Region in etwa 700 Kilometer Entfernung, wo auch Nasa-Gemeinschaften leben. Diese hatten uns um Rat ersucht, ihnen beizubringen, wie man Projekte ausarbeitet, wie man staatliche Mittel verwaltet."

Doch schon in der ersten Nacht ihres Besuches wurden die beiden von einem Kommando der FARC entführt. "Ich sei ein Bürgermeister, also ein staatlicher Funktionär, der die Leute betrügt und leere Versprechungen macht." Nach einer Woche kamen rund 400 Angehörige der Guardia Indígena und befreiten die beiden. Sie waren mit allen möglichen Verkehrsmitteln von Toribío aufgebrochen, um ihren Bürgermeister und dessen Vorgänger zu suchen. Vitonás: "Ich werde mein ganzes Leben lang nicht wissen, wie ich diesen Menschen das vergelten kann."

Die "Indigene Wacht"

Die "Indigene Wacht" der Nasa geht auf eine alte Tradition der Selbstverteidigung zurück; in der heutigen Form entstand sie jedoch erst 2001. Es sind Männer und auch einige Frauen aller Altersstufen, die in ihrer Freizeit eine Art Bereitschaftsdienst leisten. Ihre einzige "Bewaffnung" besteht in einem mit färbigen Bändern geschmückten Holzstock, ihrem Zeremonialstab und einem Funkgerät sowie einer Jacke in Leuchtfarbe.

Bemerken die Guardias eine verdächtige Truppenbewegung, stellen sie die Soldaten oder Guerilleros zur Rede und fordern sie auf, das Gebiet zu verlassen. Oder sie vertreiben sie mit ihren Stöcken, wie sie es vor wenigen Monaten mit einer Armee- und einer Guerilla-Einheit gemacht haben. Auch diese Aktion ging durch die kolumbianischen Medien.

"Die Guardias erhalten keine Entlohnung. Die meisten bearbeiten nebenbei ein Stück Land und leben von der Subsistenzwirtschaft", erzählt Carlos, mein "Wächter", der in den Tagen meines Aufenthaltes in Toribío nicht von meiner Seite weicht. Und er erklärt mir das Funktionssystem: Stellt ein Guardia eine verdächtige Truppenbewegung fest, so ruft er etwa zehn andere an, von diesen jeder wiederum zehn andere, und so versammeln sich in ein bis zwei Stunden mindestens 300 Personen. Sollte es zu ernsthaften Auseinandersetzungen kommen, setzen die Guardias originelle Kampfmittel ein: Schleudern, Plastiksäcke mit einer Art aggressiver Bienen darin, Zweige, die sehr starke Hautjuckungen hervorrufen.

Nach der Aktion vom vergangenen Juli, als die Einheimischen die Militärbasis räumten, gingen ihre Proteste gegen die Präsenz bewaffneter Akteure in ihrem Gebiet weiter. Sie luden den Staatspräsidenten Juan Manuel Santos ein, sie zu besuchen. Nach anfänglicher Weigerung nahm dieser schließlich die Einladung an und reiste Anfang August mit einigen Ministern nach Toribío. Sie wurden freundlich und höflich empfangen. Der Staatschef hörte sich die Argumentation der Menschen an - die Versammlung war von etwa 10.000 Nasa besucht - und versuchte dann in 40 Minuten, eine Antwort auf die vorgebrachten Probleme zu finden.

Die Hauptanliegen der indigenen Sprecher und Sprecherinnen bezogen sich auf eine Einstellung der Kämpfe zwischen Armee und Guerilla in ihrem Gebiet, auf eine echte Umsetzung des verfassungsmäßigen Rechtes auf Autonomie und auf eine Rücknahme der zahlreichen von der Vorgängerregierung des Präsidenten Uribe Vélez vergebenen Bergbaukonzessionen. Bis jetzt ist der entsprechende Dialogprozess allerdings nicht weit gediehen.

Seit vergangenem Oktober laufen in Kubas Hauptstadt Havanna Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla. Die Aussichten auf ein positives Abkommen stehen gut. Ein Ende des verlustreichen Dauerkonflikts, in dem vor allem die Zivilbevölkerung der Hauptleidtragende ist, könnte auch zu einer Entmilitarisierung und Befriedung des Lebensraumes der Nasa führen.

Konstruktive Kraft

"Bezüglich des Friedensprozesses empfinden wir Besorgnis und Hoffnung, und wir haben auch Vorschläge dazu", meint Ezequiel Vitonás, der gegenwärtige Bürgermeister von Toribío und Cousin von Arquímedes. "Besorgnis, dass die Regierung und die Guerilla zusammen in dem Abkommen unser kollektives System des Bodenbesitzes aushöhlen wollen."

Beiden ist dieses System nämlich ein Dorn im Auge, da es ihrer Weltanschauung nach eine profitable wirtschaftliche Nutzung des Landes behindert. "Aber natürlich hoffen wir, dass der Friedensdialog positiv ausgeht. Wir hoffen auf eine Demokratisierung des Systems. Wir haben selbst Erfahrungen mit Friedensprozessen, aber daran herrscht wohl kein besonderes Interesse", schätzt der indigene Kommunalpolitiker die Lage ein.

Arquímedes Vitonás blickt noch weiter in die Zukunft: "Eine der größten Herausforderungen ist für mich die Frage, inwieweit es die indigenen Völker im 21. Jahrhundert schaffen, nicht nur mit der Kraft des Widerstandes, sondern mit der konstruktiven Kraft des Aufbaus, der Regierungsfähigkeit und der Anwendung ihres traditionellen Wissens in eine neue Phase der Geschichte einzutreten." Das Volk der Nasa ist auf diesem Weg jedenfalls schon weit fortgeschritten.

Werner Hörtner ist Journalist und Autor und lebt in Wien. 2007 erschien im Zürcher Rotpunktverlag sein Buch "Kolumbien verstehen", im kommenden September erscheint im selben Verlag
ein Buch über die kolumbianische Geschichte der letzten Jahrzehnte und über den Friedensprozess.

Die Nasa, auch Páez genannt, sind ein Volk mit einer alten widerständischen Kultur, das nie von den spanischen Eroberern unterworfen wurde. Mit etwa 150.000 Angehörigen sind sie die zahlenmäßig zweitstärkste indigene Ethnie Kolumbiens und leben, auf mehrere Departements zerstreut, im Süden des Landes. Die meisten Nasa siedeln im nördlichen Teil der Region Cauca, mit der Kleinstadt Toribío als Zentrum.
Wegen der beharrlichen Verteidigung ihrer kulturellen Eigenständigkeit und ihrer territorialen Autonomie geraten sie immer wieder ins Kreuzfeuer aller bewaffneten Akteure des kolumbianischen Dauerkonflikts: der linken Guerilla, der rechtsextremen Paramilitärs und der staatlichen Armee. Zum Schutz ihres Lebensraumes haben sie eine Guardia Indígena aufgestellt, eine unbewaffnete Selbstverteidigungsgruppe.