Weltmacht oder Auslaufmodell?:Religion hat, wie zahlreiche Studien belegen, durchaus Zukunft, allerdings nur in einer bunten, bescheidenen und dienenden Form.
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Seit Jahrzehnten laufen Männer und Frauen den christlichen Kirchen davon. Skandale erhöhen deren Zahl, jede "Beruhigung" in den Folgejahren bremst den Auszug, stoppt ihn aber nicht. Die Entfremdung immer neuer Generationen hat viele Ursachen, der Austritt ist der jeweilige Schlussstrich nach Überschreiten individueller Schmerzgrenzen. Daher ist auch kein Ereignis denkbar, das diesen Trend über Nacht signifikant umkehren könnte. Selbst eine sensationelle Erfüllung aller Reformwünsche durch den neuen Papst würde keine Massenrückkehr in Europa bewirken. Ihre anhaltende Missachtung könnte diese eines Tages allerdings unmöglich machen.
Mehr Agnostiker
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang freilich, dass sich, sofern eine leidlich nachvollziehbare Berechnung überhaupt möglich ist, der Anteil der Religionen an der Gesamtbevölkerung in den letzten hundert Jahren kaum verändert hat (vgl. Statistik-Zusammenstellung auf dieser Seite, Anm.).
Die neuen Religionen sind keineswegs, wie vielleicht zu vermuten wäre, explosiv gewachsen. Dagegen hat die Zahl der früher überhaupt nicht gezählten Agnostiker und Atheisten deutlich zugenommen. Natürlich sind diese Zahlen insgesamt mit großen Fragezeichen zu versehen, aber es ist ein großes Verdienst von Heiner Boberski und Josef Bruckmoser, dass sie in ihrem neuen Buch, "Weltmacht oder Auslaufmodell - Religionen im 21. Jahrhundert", ein unerhört dichtes Zahlen- und Faktenmaterial zusammengetragen haben.
Unerwartet: Das Christentum wächst in jüngster Zeit am schnellsten - in China! Das kommunistische Imperium ist mit 67 Millionen Christinnen und Christen (und drei bis vier Millionen Taufen im Jahr!) nach den Philippinen mit 87 Millionen die Nummer 2 in Asien! Not in vielerlei Gestalt, Sinnsuche, Wunderglauben und beeindruckende Vorbilder gelten als Hauptantriebsgründe. Die anhaltende Spaltung zwischen regierungskontrollierter und eigentlich verbotener Untergrundkirche lassen ein gemeinsames Auftreten natürlich nicht zu.
In Nord- und Südamerika leben knapp 37 Prozent aller Christen der Erde; die meisten Zuwanderer in die USA ("Hispanics") treiben dort deren Katholikenanteil in die Höhe. In Südamerika zahlt die katholische Kirche den Preis für häufige Kumpanei mit den Mächtigen und die Verunglimpfung der Befreiungstheologie. In Brasilien, Chile, Guatemala sind der katholischen Kirche schon ein Drittel der Mitglieder davongelaufen: Sieben von zehn haben bei Pfingstlern, Charismatischen Erneuerern und anderen Evangelikalen angedockt.
In Afrika matchen sich Christentum und Islam, die beide vor allem südlich der Sahara Zulauf haben, wo vor hundert Jahren die meisten Menschen noch Naturreligionen anhingen. Die Muslime sind seither um das Zwanzigfache, die Christen fast um das Siebzigfache gewachsen: auf rund 230 bezw. 470 Millionen.
Davon reden gern jene, die nur eine Krise des Christentums im "säkularisierten" Westen erkennen möchten, welche durch das Aufblühen der Kirchen in Asien und Afrika mehr als wettgemacht würde.
Das freilich dürfte sich schon in naher Zukunft als fromme Selbsttäuschung erweisen. Lateinamerikaner, Asiaten und Afrikaner, die sich heute aus freien Stücken einer christlichen Kirche zuwenden, schätzen an dieser das soziale und humanitäre Engagement in materiellen und geistigen Nöten - aber nicht ein theoretisches Lehrgebäude, dem sich die Menschen anzupassen haben, anstatt umgekehrt. Die Unterstellung, der Priesterzölibat sei nur ein Problem für eine Handvoll frustrierter Altpfarrer in Mitteleuropa, aber ein begeistert angenommener Segen für tropische Regenwälder und Mega-Slums der südlichen Welt, ist nicht nur ein Irrtum, sondern ein offener Betrug, der nicht mehr lange widerspruchslos mitgeschleppt werden dürfte.
Muslimische Welt?
Die Wahl eines südamerikanischen Papstes wird hier keine plötzliche Kehrtwendung bringen. Man weiß von Franziskus I., dass er gerade in der Sexualethik sehr konservative Positionen vertritt. Aber er geht anders an alle diese Probleme heran als ein europäischer Theologe, dem immer zuerst einfällt, warum etwas nicht geht. Als Erzbischof von Buenos Aires hat Kardinal Bergoglio oftmals gezeigt, dass ihm das Schicksal der Menschen wichtiger ist als theoretische Moralregeln. Wenn er eine Dezentralisierung der kirchlichen Machtverhältnisse schafft, könnte daraus auch ein Durchbruch in Richtung Menschennähe werden.
Aber wird in Europa das Christentum nicht ohnehin dem Ansturm eines militanten Islam erliegen? Sind wir "im großen Stil auf dem Weg in eine muslimische Welt", wie schon prognostiziert wurde?
Darüber lässt sich endlos diskutieren. Auch das erwähnte Buch von Boberski/Bruckmoser gibt ernst zu nehmende Stimmen namhafter islamischer Gottesgelehrter wieder, die eine auch gewaltsame Verbreitung ihrer Religion in westlichen Ländern offen befürworten. Aber es zitiert auch Aussagen anderer Experten, die den Koran nicht wortwörtlich, sondern "humanistisch" lesen. Wohl haben muslimische Zuwanderer im Schnitt erheblich mehr Kinder als Europäer, aber das hat nachweislich weniger mit einem religiösen als mit einem sozio-kulturellen Hintergrund zu tun. Mit zunehmender Bildung ändert sich ihr Verhalten schon in der zweiten Generation: Geburtenraten und Lebensstil passen sich rasch dem neuen Umfeld an - in jeder Religion. Hat ein "europäischer Islam" Chancen?
Es ist anzunehmen, dass muslimische Frauen und Männer, wenn sie einmal in Europa einigermaßen heimisch geworden sind, ihre zunächst zum Zweck des Identitätserhalts eingesetzten Stilmittel der Kleidung und des Sozialverhaltens ebenso ablegen werden wie die Scheu vor gemischtgeschlechtlichen Schulen und Sportstätten. Das verbissen-stumme Warten darauf, dass sie einmal die Mehrheit haben werden und dann die Scharia auch für alle Österreicher einführen können, mag es da und dort zwar auch geben - aber nur bei wenigen fanatischen Träumern. Auch Zuwanderer suchen Arbeit, Weiterbildung, Anschluss an Gleichgesinnte, Unterhaltung ohne Ideologie.
Daher ist ein ehrlicher, sehr wohl auch kritischer, aber menschlich bemühter Dialog über Glauben (weniger über Glaubenssätze) ohne Alternative. Man kann nur staunen, wie viele Dialogprozesse in der Welt längst im Gange sind. Einer davon ist die vom gemaßregelten katholischen Theologen Hans Küng in Gang gesetzte Bewegung in Richtung "Weltethos". Darunter ist nicht eine Religionenmischmaschine zu verstehen, die ein jämmerliches Einheitscredo hervorbringen soll.
Es geht vielmehr um Sicherung eines Überlebens der Menschheit durch ein Praktizieren ethischer Grundregeln, die in allen großen Religionen vorkommen. "Ohne Frieden unter den Religionen kein Friede unter den Völkern" - ein weises Ziel. Ist nicht ein solcher Friede auch Voraussetzung dafür, dass ein erkennbar aggressiver werdender Atheismus der Dawkins-"Apostel" den Beitrag der Religionen zur Humanisierung der Welt wieder höher schätzt als die Gefahr gewaltsamer Missionierung, die gerade von monotheistischen Religionen ausgeht?
Hilft der neue Papst?
Werden also Religionen Weltmacht bleiben? Nicht, wenn sie sich an Weltmächte als Schutzmächte verkaufen oder sich selbst als irdische Mächte gebärden. Hauptverantwortung eines Staates ist die Sicherung von Religionsfreiheit und aller anderen Menschenrechte. Bewährte Zusammenarbeit (wie in Österreich) zwischen Staat und Religion ja, aber als Partnerschaft auf Augenhöhe, nicht zur Privilegiensicherung.
Religion wird zum Auslaufmodell, wenn sie sich mit abstrakten Lehren, undurchschaubaren Geboten und nicht nachvollziehbaren Verboten behaupten will, statt jeden Menschen auf seinem je eigenen Weg durch eine immer bunter und immer komplexer werdende Welt dienend und helfend zu begleiten - wenn möglich unter der Führung von "Lichtgestalten", wie man sie auch in der Politik immer seltener findet.
An Religionen wird diesbezüglich ein noch höherer Anspruch gestellt. Ob da ein neuer Papst etwas bewirken wird, nachdem schon sein Vorgänger jüngste Sympathie-Umfragen in Österreich gegen den Dalai Lama verloren hat, wird spannend zu verfolgen sein. Das war freilich eine Momentaufnahme wie viele. Der Glaube ist flüssig geworden.
Hubert Feichtlbauer, geboren 1932, war u.a. Chefredakteur von "Kurier" und "Furche", schreibt nun für viele Zeitungen und Me-dien. 1998 wurde er zum Vorsitzenden der Plattform "Wir sind Kirche" gewählt.
Anteile der Religionsangehörigen an der Weltbevölkerung
Nach der World Christian Encyclopedia machte 2010 das Christentum 33,2 Prozent der Weltbevölkerung aus, verglichen mit 34,8% hundert Jahre davor. Der Islam veränderte sich zwischen 1910 und 2010 von 12,6 auf 22,4%, der Hinduismus von 12,7 auf 13,7% und der Buddhismus ging von 7,8 auf 6,8% zurück.
Laut einer anderen Studie (Status of Global Mission 2012) stehen derzeit geschätzte 2,33 Milliarden Christen (davon etwa 1,2 Milliarden Katholiken) 1,58 Milliarden Muslimen, 969 Millionen Hindus, 473 Millionen Buddhisten, 467 Millionen Anhängern traditioneller chinesischer Religionsformen und 264 Millionen Anhängern ethnischer Religionen gegenüber. Dazu kommen 63 Millionen Gläubige neuer Religionen, 25 Millionen Sikhs und an die 15 Millionen Juden.
(Alle Angaben in diesem Artikel entstammen dem Buch "Weltmacht oder Auslaufmodell" von Boberski/Bruckmoser.)
Literatur
Heiner Boberski/Josef Bruckmoser: Weltmacht oder Auslaufmodell - Religionen im 21. Jahrhundert. Tyrolia Verlag, 2013, 224 Seiten, 19,95 Euro.