Zum Hauptinhalt springen

Der Glöckner vom Tiergarten

Von Markus Kauffmann

Kommentare
Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Wer durch den Tiergarten Berlins schlendert, wird zuweilen von Klängen begleitet, die von einem der seltensten und schwersten Instrumente auf Erden erzeugt werden - dem Carillon.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 16 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der Weg zur Arbeit führt Jeffrey A. Bossin steil nach oben. Der Mann mit dem grauen Stoppelhaar und dem Dreitagebart ist gut vermummt, denn sein Arbeitsplatz in 40 Meter Höhe ist eiskalt. Hat er die 187 Stufen erklommen und auf dem glatten Holzbrett Platz genommen, das einer Orgelbank gleicht, steckt er sich seine schwarzen Fingerschoner auf und bindet sie ums Handgelenk fest.

Dann plötzlich schlägt er mit den Fäusten und tritt mit den Füßen auf Holztasten ein und eine Kakophonie dröhnender, donnernder, vibrierender Glockentöne brüllt einem das Hirn voll, dass die Wände zittern und einem buchstäblich das Hören vergeht.

Dass ein Mensch in diesem brausenden Chaos überhaupt eine gerade Melodie hervorbringt, grenzt schon an ein Wunder. Der 58-jährige Bossin aber, in Kalifornien gebürtiger Musikwissenschafter und einer der weltbesten Carilloneure (= Glockenspieler, Glöckner), spielt sich an "seinem" Instrument durch die Musikgeschichte, von alten Chorälen bis zu "Yesterday" von den Beatles.

In luftiger Höhe über dem Berliner Tiergarten ist er der Herr über 68 Glocken mit einem Gesamtgewicht von 48 Tonnen. Die schwerste Glocke wiegt fast acht Tonnen - und dann werden die Glocken immer kleiner, die Töne immer höher, bis sie nach fünfeinhalb Oktaven eine Tonhöhe erreichen, die noch acht Töne über den höchsten Klavierton hinausgeht. Die Glocken werden mit relativ kleinen Klöppeln angeschlagen, müssen also nicht zum Baumeln gebracht werden. Dennoch erfordert das Schlagen mit den Holztasten ziemlich viel Kraft. Zwar könnte dem Glöckner auch ein Computer die Arbeit abnehmen - wenn er denn bloß funktionierte.

Am besten kann man das virtuose Spiel Bossins in hundert Meter Entfernung vom Carillon genießen. Dann bekommen auch der Reichstag und das Bundeskanzleramt die volle akustische Bandbreite ab. Deshalb darf Bossin nur an sitzungsfreien Tagen spielen - ein Tribut an die Politik.

Seit einundzwanzig Jahren erklimmt der Deutsch-Amerikaner das 42 Meter hohe Carillon, das am 27. Oktober 1987 im Rahmen der 750-Jahr-Feier Berlins eingeweiht wurde und dessen Bau er selbst initiiert und geplant hatte. Ermöglicht wurde das Vorhaben durch die Spende eines Automobilkonzerns, dessen damaliger Vorstandsvorsitzender Edzard Reuter Berlin besonders verbunden ist. War sein Vater doch der legendäre Berliner Bürgermeister Ernst Reuter, der angesichts der sowjetischen Blockade West-Berlins mit brüchiger Stimme ausrief: "Ihr Völker der Welt! Schaut auf diese Stadt!"

Mit Hilfe des Sponsorengeldes konnte die Stadt das "Tiergarten-Carillon" bauen, einen aus vier schlanken Betonwinkeln bestehenden Turm, der trotz seiner Höhe elegant und mit dem leicht geschwungenen Flachdach japanisch-grazil wirkt. Die Verkleidung aus spiegelndem schwarzem Granit lässt ihn aus verschiedenen Blickwinkeln wie einen extraterrestrischen Monolithen aussehen. Sein Glockenspiel - das viertgrößte der Welt - hallt weithin über den riesigen Tiergarten, wo sich sein Klang nicht gegen den Lärm der Metropole behaupten muss.

Die Geschichte der Carillons reicht bis zu den mittelalterlichen Städten des 14. Jahrhunderts zurück, wo ein Glocken-"Quartett" die Flaneure ans Heimkommen gemahnte. Am weitesten verbreitet sind sie in Flandern, aber auch Deutschland zählt mehr als vierzig dieser Instrumente. Das Tiergarten-Carillon gehört zweifellos zu den Sehenswürdigkeiten der Spree-Metropole - und dank Bossin auch zu ihren Hörenswürdigkeiten.