Ende Februar jährte sich sein Todestag zum 100. Mal.
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Er hätte sich kein ereignisreicheres Jahr aussuchen können, der in St. Petersburg geborene Wilhelm Kreß, als er 1873 nach Wien kam und den Entschluss fasste, hier zu bleiben. Der Zuzügler kommt aus dem Staunen nicht heraus: Seit seinem Kurzaufenthalt vor fünfzehn Jahren hat sich die Kaiserstadt an der Donau gewaltig verändert. Die Stadtmauer ist niedergerissen, der Stadtgraben zugeschüttet, die Basteien sind großteils geschleift.
Auf dem Glacis, dem freien Gelände davor, entsteht ein breiter Boulevard. Zu dessen beiden Seiten wachsen prachtvolle Bauten empor, von staatlicher und privater Hand finanziert. Die Ringstraße, wie man die Prachtstraße nennt, ist am 1. Mai 1865 vom Kaiser persönlich eröffnet worden. In der Hofoper gelangen seit einigen Jahren Werke der bedeutendsten Komponisten zur Aufführung. Zahlreiche andere Gebäude sind im Bau oder in Planung: das Rathaus, das k. u. k. Hofburgtheater, die Universität, das Parlament, die Börse. Aber auch die Palais des großbürgerlichen Geldadels, der Familien Rothschild, Wertheim, Epstein, Dumba und wie sie alle heißen, wachsen nacheinander aus dem Boden.
Wien auf dem Weg
zur Weltstadt
In diesem Jahr tut sich in der Kaiserstadt aber auch sonst einiges. Die erste Wiener Hochquellenwasserleitung wird mit der Fertigstellung des Hochstrahlbrunnens auf dem Schwarzenbergplatz in Betrieb genommen, das "Sperrschiff" an der Nußdorfer Wehr, das die am Donaukanal gelegenen Stadtteile vor Überschwemmungen schützen soll, ist fertiggestellt, die Arbeiten am Südbahn- und Nordwestbahnhof sind abgeschlossen. Wien ist auf dem Weg zur Weltstadt.
Nach der entscheidenden militärischen Niederlage 1866 bei Königgrätz gegen die Preußen hat es einen ununterbrochenen Wirtschaftsaufschwung gegeben. Zahlreiche Banken und Kapitalgesellschaften sind gegründet worden, ein riesiges Spekulationsfieber hat die Menschen erfasst. Der Bauboom treibt die Aktien in die Höhe. Die Reichen wollen noch reicher, die Ärmeren ein bisschen wohlhabender werden.
Am 1. Mai 1873 eröffnet der Kaiser auf dem Wiener Pratergelände die 5. Weltausstellung, eine internationale Leistungsschau, die den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt der Zeit dokumentiert. Symbol und prachtvoller Mittelpunkt der Großveranstaltung ist die "Rotunde", eine imposante Stahlträgerkonstruk- tion mit einem Durchmesser von 108, und einer Höhe von 84 Metern. Die Supershow mit ihren mehr als zweihundert Hallen und 53.000 Exponaten ist ein attraktiver Anziehungspunkt für illustre Gäste aus aller Welt, für Technikinteressierte und Schaulustige.
Der Wirtschaftsaufschwung der Gründerzeitjahre (1867-73) beruht freilich größtenteils auf Spekulationsgeschäften. Nur acht Tage nach der Ausstellungseröffnung platzt die schillernde Seifenblase. Als viele Glücksritter ihre Gewinne einstreifen wollen und ihre Aktien gleichzeitig verkaufen, kommt es an der Börse zu einem gewaltigen Crash, der als "Schwarzer Freitag" (9. Mai 1873) in die Wirtschaftsgeschichte eingegangen ist. Binnen Stunden brechen zahlreiche Banken und Kapitalgesellschaften zusammen, werden unzählige private Existenzen vernichtet. Zu allem Unheil bricht im Sommer dieses Jahres auch noch eine Cholera-Epidemie aus, der allein in Wien an die dreitausend Menschen zum Opfer fallen. Die Weltausstellung, von der man große wirtschaftliche Impulse erwartet hat, schließt im November mit einem Verlust von neunzehn Millionen Gulden (ein Gulden = ca. sechs Euro).
Wilhelm Kreß, der wegen der Monstershow nach Wien gekommen ist, rangiert nicht unter den Spekulationsverlierern. Er ist nicht reich an Finanzen, aber reich an Ideen. Kreß ist als Sohn deutscher Eltern am 29. Juli 1836 in der Hauptstadt des Zarenreiches zur Welt gekommen. Der Vater, ein Textilfabrikant, hat es in St. Petersburg zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Er schickt den Sohn auf das dortige deutsche Realgymnasium und hofft auf dessen Nachfolge im elterlichen Betrieb.
Allein, der Filius durchkreuzt seine Pläne. Er schließt die Schule nicht ab und lässt sich stattdessen zum Sänger ausbilden, doch seine Stimme reicht für eine musikalische Karriere nicht aus. Also erlernt Wilhelm den Beruf des Klavierbauers. In St. Petersburg hält es ihn allerdings nicht. Er zieht in jungen Jahren hinaus in die Welt, geht auf Wanderschaft durch halb Europa.
Eines Tages wird der am technischen Fortschritt brennend Interessierte von einer Idee übermannt, die ihn nicht mehr loslassen sollte. Er möchte eine von einem Motor angetriebene Flugmaschine bauen - war es doch bislang nur gelungen, mit Ballons, die leichter als Luft sind, vom Boden abzuheben und zu "fliegen". Kreß verschafft sich einschlägige Literatur, stellt aerodynamische Überlegungen aller Art an, plant und entwirft Flugzeugmodelle. Aber er kommt seinem hoch gesteckten, mit Besessenheit verfolgten Ziel, in das er einiges Geld und seine Arbeitskraft investiert, nur langsam, Schritt für Schritt, nahe. Nach vielen Rückschlägen und Enttäuschungen gelingt es ihm dann, ein aus Holzstäben, Leinen und Papier angefertigtes Flugmodell herzustellen, dessen Propeller mit der Hand "aufgezogen" und durch verdrehte Gummifäden angetrieben werden.
Vom Klavier- zum Flugzeugtechniker
Doch der Weg von einem brauchbaren Modell bis zu einer Flugmaschine ist weit und mühsam. Dazu braucht es, wie bei jeder Erfindung heute wie damals, nicht nur zähen Erfolgswillen und Überzeugungskraft, sondern vor allem Geld und finanzkräftiger Sponsoren. Warum sich Kreß diese Unterstützung ausgerechnet im wirtschaftlich und technisch rückständigen Österreich erhofft, ist und bleibt sein Geheimnis.
Wilhelm Kreß fasst in der Kaiserstadt rasch Fuß. Er wird bis an sein Lebensende hier bleiben. Da er als Klavierbauer keine Beschäftigung findet, bestreitet er seinen Lebensunterhalt als Klavierstimmer. An seinem großen Lebensziel, dem er jede Minute seiner Freizeit opfert, hält er dennoch mit unbeirrbarer Beharrlichkeit fest. Durch seinen Beruf kommt er alsbald mit einflussreichen Gesellschaftsschichten in Kontakt. Schließlich gelingt es ihm, maßgebliche Persönlichkeiten für seine Erfindung zu interessieren. Im Jahr 1880 hält er im Niederösterreichischen Gewerbeverein einen viel beachteten Vortrag. Unter den Zuhörern befindet sich auch Johann von Radinger, seines Zeichens Professor für Maschinenbau an der Technischen Hochschule, der die eminente technische Begabung von Kreß erkennt und dessen Bemühungen um die Weiterentwicklung seines Drachenfliegermodells voll unterstützt.
Radinger tritt öffentlich für den engagierten Flugmaschinenbauer ein und nimmt etliche Jahre später den Fünfundfünfzigjährigen sogar als außerordentlichen Hörer in seine Abteilung auf. Von dessen Studieneifer ist er so tief beeindruckt, dass er ihn seinen jungen Studenten als nachahmenswertes Beispiel empfiehlt. Ein anderer hoch angesehener Wissenschafter, der berühmte Physiker Ludwig Boltzmann, macht in einem Vortrag ebenfalls auf den Erfinder aufmerksam.
Kreß setzt sich allerdings auch selbst in Szene. 1881 demons-triert er in der Albertina vor einigen Mitgliedern des Kaiserhauses sein Flugmodell; bei der ersten aeronautischen Ausstellung in Wien fünf Jahre später wird er sogar Kaiser Franz Joseph vorgestellt.
Jahr um Jahr vergeht. Endlich hat es Wilhelm Kreß geschafft. Sein Modell ist flugtauglich. Aber wird sich der Pionier je mit einer Flugmaschine in die Lüfte erheben können? Kreß fehlt das Geld für den Bau eines solchen Gerätes. Zweifel nagen an seiner Seele, er versinkt in Depressionen. Da geschieht ein österreichisches Wunder. Ein Kreß-Komitee wendet sich mit einem Spendenaufruf an die Öffentlichkeit, und siehe da, innerhalb kurzer Zeit kommt eine Summe von 14.000 Gulden zusammen. Wilhelm Kreß jubelt. Das Geld wird zwar nicht ausreichen, aber er will das unmöglich Scheinende trotzdem in Angriff nehmen.
Als Start- und Landefläche für seinen Flugversuch hat er mangels anderer Möglichkeiten den Wienerwaldsee in der Nähe von Tullnerbach in Niederösterreich vorgesehen. Er beauftragt eine Wiener Fahrradfabrik mit der Herstellung der Stahlrohrgerüste, der Transmissionen und der Kugellager. Eine andere Firma besorgt die Aluminiumverkleidung für die Schwimmgondeln, eine dritte stellt die Holzrippen für die Flügel und die Steuerflächen her. Die Stahlkuppelungen werden von den renommierten Böhlerwerken unentgeltlich geliefert.
Es fehlt jetzt nur ein Teil, der wichtigste, der Motor. Die Firma, die Kreß mit dem Bau beauftragt hat, hält den Liefervertrag nicht ein und steigt schließlich aus dem Vertrag aus. Unterdessen sind die Geldmittel erschöpft. Nun springen Gönner in die Bresche, unter ihnen sogar der Kaiser.
Der missglückte
Jungfernflug
Die neue Firma, die den Auftrag übernimmt, liefert dann zwar den Motor, aber statt der verlangten 270 Kilogramm wiegt dieser 380! Kreß entschließt sich dazu, den übergewichtigen Motor dennoch in den Flugkörper einzubauen, der in einem Hangar in der Nähe des Wienerwaldsees bereitsteht. Er muss noch einige Veränderungen am Flugkörper vornehmen, ehe er den entscheidenden Flugversuch unternimmt.
Der Morgen des 3. Oktober 1901 ist angebrochen. Wilhelm Kreß klettert in seinen Drachenflieger. Er wirft den Motor an, die Maschine gleitet aus dem Hangar und setzt auf der Wasseroberfläche auf. Der Pilot betätigt das Gaspedal. Innerhalb kürzester Zeit ist das andere Seeufer erreicht. Um nicht an der Staumauer zu zerschellen, bremst er jäh ab und unternimmt einen Wendeversuch. Umsonst. Die Maschine kentert, sackt ab und bohrt sich in den verschlammten Seeboden. Der Zweiundsechzigjährige kann sich nur mit Mühe retten. Sein Lebenswerk ist damit endgültig gescheitert.
Zwei Jahre später gelingt den Brüdern Wright in Amerika, was Wilhelm Kreß versagt geblieben ist: der erste Motorflug der Welt, der im vierten Versuch ganze 59 Sekunden dauerte.
Der glücklose Flugpionier starb am 24. Februar 1913, zwölf Jahre nach seinem dramatischen Missgeschick. Sein Tod war der angesehenen "Neuer Freien Presse" immerhin einen langen Gedenkartikel wert. Mehr noch: Wilhelm Kreß erhielt ein Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof, und die Gemeinde Tullnerbach errichtete ihm zu Ehren ein Denkmal. Wer will da noch von einem österreichischen Erfinderschicksal reden?
Friedrich Weissensteiner war Direktor eines Wiener Bundesgymnasiums und ist Autor zahlreicher historischer Bücher, u. a. "Die rote Erzherzogin", "Die Frauen der Genies", "Große Herrscher des Hauses Habsburg".