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Dem ungeplanten Unfall des Brexit-Votums folgen Shakespeare-taugliche Intrigenspiele.
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London. Falls wir schon vergessen haben sollten, was an Großbritannien einmal so liebenswert schien: Das politische System ist in Selbstauflösung begriffen, das Pfund tief gefallen, die Bank of England in Sorge um die wirtschaftlichen Stürme am Horizont - und im Unterhaus bewerfen Tories und Labour einander mit Zitaten aus dem Liederschatz der Smiths.
"Als einer, der selbst in den politischen Friedhof eingehen wird", sagte David Cameron am Donnerstag in Richtung des von seiner eigenen Parlamentsfraktion verlassenen Labour-Chefs Jeremy Corbyn, "Darf ich vielleicht meinen Lieblingsmann falsch zitieren und sagen: ‚Treffen wir uns beim Friedhofstor‘?" Mit seinem Lieblingsmann meinte Cameron Smiths-Sänger und -Texter Morrissey (die Bewunderung ist übrigens keine gegenseitige, wie Morrissey 2010 klarstellte). Das Zitat "So I meet you at the cemetry gates" entstammt wiederum einem Song auf dem Smiths-Album "The Queen Is Dead". Wenn der Premier schon dieses Album auspacke, konterte die Labour-Abgeordnete Kerry McCarthy, solle er "sich doch lieber noch weiter deprimieren, indem er sich meinen Lieblingssong ‚I Know It’s Over‘ anhört." Was dagegen die Labour Party anginge, sei jene ein Licht, das niemals verlösche, meinte Kerry, und zitierte damit ihrerseits den Songtitel "There Is A Light That Never Goes Out".
Jenes Lied handle von einem Doppelselbstmord, parierte Cameron: "Sie haben es mit Rücktritten probiert", polterte er in Anspielung auf Labours Schattenkabinett, das Corbyn in den Tagen nach dem Referendum fast vollzählig seine Unterstützung entsagt hatte, "Offensichtlich müssen sie sich anderswo nach Inspirationen umsehen."
Tatsächlich spekuliert der Erzähler in Morrisseys Text ja eher mit der Möglichkeit eines tödlichen Unfalls - was die Stimmung im Großbritannien eigentlich treffender widerspiegelt als eine Selbstmordmetapher: Unvergesslich der Auftritt des Sky-News-Politik-Chefreporters Faisal Islam, der in einem Studiogespräch sichtlich aufgelöst vom Treffen mit einem nicht namentlich genannten, konservativen Brexit-Befürworter erzählte. Auf die Frage, was nun der Plan des Vote-Leave-Teams sei, habe der Politiker einfach in Richtung Premiersresidenz in der Downing Street gedeutet und gesagt: "Es gibt keinen Plan. Die da hätten einen Plan haben sollen."
Traurige Siegesreden
Erst langsam wird klar, was nach jener traurigsten aller Siegesreden von Michael Gove und Boris Johnson am vergangenen Freitag in der konzeptlosen Brexit-Fraktion vorging, die offensichtlich gar nicht gewinnen, sondern Cameron bloß beschädigen und sich dabei ein wählbar volkstümliches Gesicht verleihen hatte wollen. Schockiert von Johnson und Goves inhaltsleeren Beschwichtigungen prügelte der griesgrämige alte "Guardian"- und "Observer"-Schreiber Nick Cohen eine bittere Abrechnung in die Tasten: "Es gibt Lügner, und dann gibt es noch Boris Johnson und Michael Gove", so seine Überschrift.
Aber das Ziel seiner Entrüstung waren nicht bloß die zwei Hauptverantwortlichen jener möglicherweise erfolgreichsten Irreführung der Massen in der Geschichte der britischen Demokratie, sondern die gesamte Zunft, der die beiden angehören (Johnsons Karriere begann in den Achtzigerjahren bei der "Times", er schreibt heute noch eine Kolumne im "Daily Telegraph", Gove war jahrzehntelang Reporter, Kolumnist und Kommentator in Print, Funk und Fernsehen).
"Ich sah etwas jenseits der Heuchelei in diesen zwei eingefrorenen Visagen", so Cohen. "Die Angst von Journalisten, die man beim Schummeln ertappt hat." Vote Leave, schrieb Cohen weiter, "wusste nicht, wie man die Schwierigkeiten mit Schottland, Irland, dem Flüchtlingslager in Calais und tausend andere Probleme lösen könnte, und wollte das auch nicht wissen. Man reagierte auf alle, die das Chaos voraussahen, das uns nun verschlingt, wie ein skrupelloser Kommentator, der weiß, dass sein Lebensunterhalt davon abhängt, den Widerspruch der Experten zum Schweigen zu bringen. Warum sollte man dem Kommentator Sendezeit geben, warum ihm einen Penny zahlen, wenn Experten zeigen können, dass alles, was er sagt, bloß aufgeblasener Unsinn ist? Die schlechtesten Journalisten wissen, dass ihr Publikum Unterhaltung, nicht Expertise will."
Europhobe Stimmungsmacher
Er bezog sich dabei auf Goves Aussage Anfang Juni als Reaktion auf die Warnungen der Ökonomen: "Die Menschen in diesem Land haben genug von Experten." Doch selbst Nick Cohen konnte nicht ahnen, um wie viel treffender seine Worte noch eine Woche später klingen sollten. Da hatte Gove, der nun überraschend als Tory-Chef kandidierte, bereits seinen Gefährten Johnson eiskalt ausmanövriert - und zwar auf eine Weise, die die schockierend korrupte Rolle der britischen Medienlandschaft im politischen Leben Großbritanniens demonstriert. Am Donnerstag war eine scheinbar private E-Mail von Michael Goves Frau, der für ihre spitzzüngigen Kolumnen berüchtigten "Daily Mail"-Journalistin Sarah Vine, an ihren Mann von einem "irrtümlich" ko-addressierten, mysteriösen "member of the public" den Medien zugespielt worden. Vine forderte darin ihren Gatten auf, so stur wie möglich zu sein. Er solle sich von Johnson "spezifische Versicherungen" besorgen, "sonst kannst du deine Unterstützung nicht garantieren".
Als Gove am Tag nach der Enthüllung dieser Korrespondenz seine Kandidatur verkündete, spekulierten Verbündete Johnsons, Vine habe ihre Botschaft absichtlich durchsickern lassen. Wenn selbst sein Intimus Gove sich von Johnson schriftliche Beglaubigungen abholen musste, wer konnte ihm dann überhaupt über den Weg trauen?
Doch Vines letzter Absatz enthielt noch eine von der britischen Berichterstattung mit vielsagender Gelassenheit aufgenommene Pointe. Goves Rolle sei "ausschlaggebend, weil die Parteimitglieder ansonsten nicht die entscheidende Rückversicherung haben, um Boris zu unterstützen, genauso wenig wie Dacre/Murdoch (Paul Dacre, Chefredakteur der "Daily Mail"; Rupert Murdoch, Eigentümer von News International inklusive "The Sun" und "The Times", Anm.), die Boris instinktiv misstrauen, aber genug von deinen Fähigkeit halten, um auf die Boris-Gove-Karte zu setzen". Deutlicher ließe sich kaum demonstrieren, wie sehr die Souveränität des britischen Staates, für die gerade 17 Millionen Briten gestimmt hatten, in den Händen eines kleinen Kreises zutiefst europhober Stimmungsmacher in den Machtzentren der Medien liegt.
Doch damit nicht genug. Am Donnerstag veröffentlichte Robert Peston, Politikredakteur von ITV und Ex-Wirtschafts-Chef der BBC, seine Insider-Sicht des Konflikts zwischen Gove und Johnson. Nicht nur habe Gove selbst Johnsons Kolumne vom Sonntag, dessen erstes öffentliche Statement nach dem gemeinsamen Presse-Empfang vom Freitag, persönlich redigiert. Johnson habe Gove sogar die Position des Schatzkanzlers in seiner Regierung angeboten. Gove wiederum habe seinem Partner davon abgeraten, anderen hochrangigen Unterstützern der Brexit-Kampagne führende Kabinettsposten zu versprechen, um in seinen Entscheidungen "flexibel" bleiben zu können. Das klingt, als habe Gove verhindern wollen, dass der plötzlich so auffällig schweigsame Johnson sich im Hintergrund die Loyalität wichtiger Verbündete sicherte, während er selbst bereits seinen persönlichen Brutus-Plan vorbereitete.
"Temperamentvolles Genie"
Gove habe darauf bestanden, dass sein Berater Dominic Cummings mit ins gemeinsame Team berufen werde. Johnson habe dies aber abgelehnt. Cummings, der während des Referendum-Wahlkampfs als Leiter der Vote-Leave-Kampagne auftrat, verdient nähere Betrachtung. Im April war er vom Treasury Select Committee, dem Finanzausschuss des Unterhauses, vorgeladen worden, um die fantasiereichen Zahlen seiner Kampagne zu rechtfertigen, darunter die berühmte, diskreditierte Behauptung, Großbritannien könne sich wöchentlich 445 Millionen Euro an EU-Mitgliedsbeiträgen ersparen, um damit sein Gesundheitsbudget aufzubessern. Cummings antwortete auf die Fragen der Abgeordneten mit demonstrativer Arroganz. Die Ungenauigkeit seiner Zahlen belaufe sich bloß auf ein paar Dezimalstellen, die makroökonomische Untermauerung des Brexit sei eine Geheimsache, er könne nicht die Namen jener Leute von Goldman Sachs nennen, die ganz Brüssel bestochen hätten, genauso wenig wie die Namen jener Botschafter, die ihm vertraulich versichert hätten, wie sehr sie die EU hassten. Wie der Parlaments-Reporter John Crace am 20. April im "Guardian" schrieb, sahen die zwei bei der Anhörung anwesenden konservativen Pro-Brexit-Abgeordneten Jacob Rees-Mogg und Steve Baker, Cummings‘ Darbietung "peinlich berührt" zu: "Ein Auftritt von Cummings hätte mehr für die Causa Remain getan als jede erdenkliche Zahl von Reden David Camerons. Sie taten ihr Bestes, ihren Mann mit ein paar leichten Fragen auf die richtige Bahn zu lenken, ungefähr so wie Mitglieder einer Bewährungskommission, die das Gute in einem Häftling zu finden versuchen, der zum ersten Mal eine ganze Gruppentherapiesitzung bewältigt hat, ohne jemand zu attackieren. Aber Cummings war schon viel zu tief im Jenseits."
Am Wochenende nach der Abstimmung zollte der Mitte-links-liberale "Observer" demselben, nun als führender Architekt des Brexit-Votums legitimierten Cummings, bereits als "temperamentvolles taktisches Genie" Respekt. In der Macho-Welt der Kampagnenritter hatte sich das Spiel mit der Unwahrheit als Mittel zum Zweck erwiesen. Eine knappe Woche später ist freilich auch das schon wieder Schnee von gestern. Die Brexit-Revolution hat, wenn schon nicht ihre Kinder, dann zumindest ihre Rädelsführer gefressen, denn bei Redaktionsschluss macht Cäsarenmörder Gove im Kampf um die Tory-Führung bereits eine ziemlich aussichtslose Figur. Die besten Chancen hat derzeit Innenministerin Theresa May, die ohne erkennbaren öffentlichen Einsatz auf der Remain-Seite gestanden war und seit langem laut von einem Austritt Großbritanniens aus der europäischen Menschenrechtskonvention träumt. Jetzt verspricht sie, bei den kommenden Brexit-Verhandlungen mit der EU eine harte Linie gegen Einwanderungsfreiheit zu fahren. Bezeichnenderweise genießt sie dabei auch die Unterstützung der "Daily Mail", deren Chefredakteur Paul Dacre sich von seiner Kolumnistin Sarah Vine offensichtlich doch nicht so bereitwillig für die Sache ihres Mannes instrumentalisieren lassen will.
Dass der am Freitag noch vom rabiat euroskeptischen "Daily Express" als klarer Favorit aufs Titelblatt gehievte Boris Johnson seiner eigenen Mission zum Opfer gefallen ist, birgt indessen die süßeste aller Ironien, hatte er dem Anti-EU-Populismus doch persönlich über drei Jahrzehnte den Boden bereitet. Als EU-Korrespondent des "Daily Telegraph" in Brüssel Ende der Achtziger bis Anfang der Neunzigerjahre hatte der mit der Idee des Faktischen nie eng befreundete, junge Journalist sich begeistert der Erfindung bis heute beharrlich in der britischen Wahrnehmung verankerter Europa-Mythen gewidmet: Von der Lachnummer der Verordnung über den Krümmungsgrad von Bananen bis hin zur Geschichte über Kondomnormen, die sich angeblich nach den Durchschnittsmaßen kleinerer kontinentaler Penisse orientierten.
Jenes europhobe Narrativ war eine wirksame Waffe, sowohl im Widerspruch zwischen Margaret Thatcher und Kommissionspräsidenten Jacques Delors, als auch später im innerparteilichen konservativen Kampf gegen Thatchers europa-freundlicheren Nachfolger John Major. In der Ära Blair mutierte das EU-Bashing dann zu einer Art Auslassventil eines englischen Nationalismus, der sich von den Konzessionen des nordirischen Friedensprozesses und den wachsenden regionalen Befugnissen von Schottland und Wales gekränkt sah.
Elite im Chaos
Später in den Nullerjahren sollte der stets flexible Johnson leidenschaftlich den Beitritt der Türkei zur EU fordern, mit seinem Engagement für Brexit stellte er sich am Ende aber an die Spitze einer irrationalen, chauvinistischen Agenda, deren giftigen Nährboden er selbst als junger Mann so entscheidend gesät hatte. Die schiere Verantwortungslosigkeit seines Zynismus äußert sich aber nicht nur in der davon verursachten Staats- und Verfassungskrise, sondern vielleicht noch fataler im Kippen des Klimas im öffentlichen Leben. Der Ton der Presse wurde noch härter, die "Sun" etwa verglich die EU auf ihrer Titelseite im besten Stürmer-Stil mit einer Mottenplage, und gleichzeitig stieg die Zahl rassistisch und xenophob motivierter Übergriffe auf EU-Einwanderer, aber auch auf Menschen dünklerer Hautfarbe.
In der Schule, am Arbeitsplatz und auf der Straße verschafft der bisher unterdrückte Rassismus sich nun ungebremst Luft. Das polnische Kulturzentrum im Londoner Stadtteil Hammersmith wurde vandalisiert, in einem Park im Boho-Bezirk Stoke Newington sprayte jemand "Pack Your Bags" und "Fuck EU" auf die Gärtnerhütte, und ich kenne selbst Eltern, deren in Deutschland und Frankreich geborene Kinder von Schulkameraden zum "Heimgehen" aufgefordert wurden. Das sind die wahren Kosten des auf beiden Seiten des britischen Unterhauses gebotenen Stegreif-Shakespeare.
Doch so wie anderswo in Europa gibt es auch hier eine andere Seite: Jene Menschen, die das fremdenfeindlich beschmierte polnische Kulturzentrum mit Blumenspenden überhäuften. Die tausenden, großteils jugendlichen Demonstranten, die am Mittwoch zu einer formell abgesagten Protestkundgebung auf den Trafalgar Square strömten. Und all jene beschämten Briten, die nun als Zeichen der Solidarität mit Einwanderern eine Sicherheitsnadel auf der Brust tragen. Am Samstag wird in London ein großer "March for Europe" stattfinden.
Während die politische Elite Großbritanniens im Chaos versinkt, zeigt sich die Zivilgesellschaft also von Tag zu Tag organisierter. Das mag Österreicherinnen und Österreichern bekannt vorkommen.
Robert Rotifer ist Musiker, Journalist, Radiomacher und Kurator, lebt seit 1997 in Großbritannien. Eben erschien sein neues Album "Not Your Door" (Gare du Nord Records, Vertrieb Hoanzl).