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Der große Erinnerer

Von Alexander Kluy

Reflexionen
Jack Kerouac bei einer Lesung 1958 in New York.
© ullstein bild / Phillip A. Harrington

Zum 100. Geburtstag von Jack Kerouac, Stimme seiner Generation und moderner Mystiker, am 12. März.


"An einem Mittag im späten September 1955 sprang ich in Los Angeles auf einen Güterzug, ließ mich mit meinem Seesack unter dem Kopf und überschlagenen Beinen in einem offenen Wagen nieder und betrachtete die Wolken." So lautet der Auftaktsatz von Jack Kerouacs "Die Dharma-Jäger", erschienen 1958. Dieses Buch enthält alles, was Beat-Literatur ausmacht: Freiheit, atemraubenden virtuosen Hochgeschwindigkeits-Bebop, Stakkato, Rausch, Sex, das Getriebene, das Spontane, das Entgrenzte, das Grenzenlose.

Jack Kerouac beschrieb Beat-Literatur - unübersetzbar ins Deutsche - so: "Everything is going to the Beat. It’s the Beat Generation, it’s Beat, it’s the beat to keep, it’s the beat of the heart, it’s being beat and down in the world, like old-time low-down. Hi, Hey, Bang!" Keine halbe Dekade nach "Die Dharma-Jäger" war, Bang!, Kerouac ausgeschrieben. Mit seiner Frau Stella, die als Verkäuferin jobbte, und seiner schwerkranken Mutter lebte er in einem Häuschen in St. Petersburg in Florida, heute ein Stipendiaten-Haus. Er war dick geworden und Alkoholiker. Oft lief der Fernseher, der Ton abgedreht. Der Kult der Beat-Literatur hatte sich zu einem Kultursturm entwickelt. Mitten im Auge des Orkans saß in einem Schaukelstuhl der, der dieses Phänomen bewirkt und ausgelöst hatte.

Brillant abseitig

In seinem mutmaßlich allerletzten Interview sagte Kerouac, er sei wie Wallace Beery in "The Champ". Und meinte damit King Vidors Film von 1931, in dem ein Boxer (Beery), der seine Karriere durch Alkohol verpfuscht, weiterboxen muss, als "Fallobst", um Geld zu verdienen. Nach einem letzten, entgegen allen Erwartungen siegreich bestrittenen Kampf stirbt der Champ an einem Herzinfarkt. Neun Tage nach diesem Reportergespräch, am 21. Oktober 1969, starb Kerouac an Blutungen in der Speiseröhre, Folge seiner Leberzirrhose. Begraben wurde er in seiner Heimatstadt Lowell.

Geboren wurde er dort als Jean-Louis Lebris de Kérouac am 12. März 1922 und wuchs im katholisch-kanadischen Bezirk der Arbeiterstadt im US-Bundesstaat Massachusetts auf, um 1900 das amerikanische Manchester. Er war das jüngste Kind, hatte einen Bruder, Gerard, fünf Jahre älter, der früh starb, und eine Schwester, Caroline, drei Jahre älter. Der Vater war Drucker bei einer französischsprachigen Zeitung und geriet in den 1930er Jahren in den Sog der Wirtschaftskrise.

© Rowohlt

Zu Hause bei den Kerouacs wurde Joual gesprochen, eine Variante des nordamerikanischen Französisch. Bis zu seiner Einschulung hatte Jack nur ein paar Brocken Englisch gesprochen und gehört. Lebenslang sollte Joual die Sprache sein, in der er sich mit seiner emotional klammernden Mutter unterhielt.

Guter Schüler. Stipendium für die New Yorker Columbia University. Warf dann alles hin. Trat in die Handelsmarine ein. Lernte nach seiner Rückkehr nach New York Mitte der 1940er Jahre Allen Ginsberg, William S. Burroughs, Gregory Corso, Herbert Huncke kennen, die schwul, bisexuell, verdrogt waren, "Tunichtgute", die Poesie verfassten, Abseitiges, Andersweltliches, spontan und echt. Und die später bis Tanger und Mexiko kamen.

Kerouac schrieb wie besessen. 1946 bis 1949 "The Town and the City", in der ersten Fassung 1.800 Manuskriptseiten lang, und von 1948 bis 1951 auf einer Endlosrolle, die er in die Schreibmaschine einspannte, "On the Road" - mit welchem Werk Freund Ginsberg, der mit dem Gedicht "Howl" ("Das Geheul") 1955 über Nacht eine nationale Berühmtheit geworden war, lange erfolglos hausieren ging.

Als das Buch 1957 erschien, wurde es eine Sensation. Und zum Konfessionsbuch einer Generation, in dem sich nachfolgende Generationen ebenfalls wiederfanden. Im Aufbruch. In Renitenz und Resistenz. In der Suche nach Tiefe und Intensität. Im rastlosen Ausbrechen aus toten Konventionen. So findet sich dieser Dialog zwischen den Hauptfiguren Sal Paradise und Dean Moriarty: "Sal, wir müssen gehen und nie anhalten, bis wir dort sind." - "Wohin gehen wir, Mann?" - "Ich weiß es nicht, aber wir müssen gehen."

© Penguin Random House

Als das Unterwegs-Buch erschien, war es aber bereits ein Nachruf, weil es ein Amerika der Land- und Seitenstraßen schildert, auf denen durchs Land getrampt wird - was 1957 kaum mehr möglich war. Zwei Jahre zuvor hatte Präsident Dwight D. Eisenhower das Interstate Highway System lanciert, den massiven flächendeckenden Ausbau der Autobahnen. In den folgenden Jahren wurde das gesamte Land vielspurig zubetoniert. 30 Jahre nach Kerouacs "On the Road" schrieb William Least Heat-Moon "Blue Highways", ein Buch über mühselige Fahrten durch die USA ausschließlich auf im Straßenatlas blau eingezeichneten ländlichen Nebenstraßen.

In den Jahren zwischen 1950 und 1960 gelang Kerouac, über den Truman Capote höhnte, er würde nicht schreiben, nur tippen, die vielleicht suggestivste Prosa über Amerika, die im 20. Jahrhundert geschrieben wurde. Man lese in "Die Eisenbahnerde" im Band "Lonesome Traveller" etwa dies: "Es war die fantastische Trägheit und das Summbrummen am schläfrig schlummernden faulen Nachmittag voller Nixtun, das alte Frisco mit seinem Küstentrübsinn - die Menschen - die Gasse voll von Lastwagen und Autos von Geschäften aus der Gegend und keiner wusste oder wollte auch nur wissen, wer ich mein ganzes Leben war, fünftausend Kilometer vom Ort meiner Geburt ging es mir auf und gehörte endlich mir im Großen Amerika."

Tosen der Sprache

Allen Ginsberg, vier Jahre jünger und ab den Sechzigern ein geschmeidig-hintersinniger Surfer auf Zeitgeistwellen, nannte Kerouac in seiner Einleitung zu dessen "Visions of Cody" - 1959 als bibliophile, auf 750 Exemplare limitierte und signierte Edition gedruckt (Exemplare werden aktuell um mehr als 4.200 Euro gehandelt) und vollständig 1972 erschienen - "the great rememberer", den großen Erinnerer. Er attestierte Kerouac ein zartes grüblerisches Mitgefühl für Verschwundenes.

"Visions of Cody", diese hin- und herströmende Prosa, ist vielleicht das Avancierteste, was Kerouac je zu Papier brachte, ein Höhe- und Kulminationspunkt, ein Sprachtosen und der perfekte Improvisations-Sturm seiner "spontaneous prose", die nie ins Deutsche übertragen wurde.

Dafür liegt nun erstmals "Engel der Trübsal" vor (erschienen im Rowohlt Verlag). Autobiografisch unterfüttert, geschrieben 1956 und 1961, im Jahr 1965 erstmals im Original publiziert. Nur schütter verschleiert als Roman, geht der Text auf eigene Erlebnisse Kerouacs zurück, besonders auf seine Zeit, als er in den Wäldern rings um den Desolation Peak, einen 1.860 Meter hohen Berg im US-Bundesstaat Washington, als Feuerwache arbeitete. Es ist das Protokoll einer Selbstablösung, eine Selbstbeobachtungsprosa.

Alles, was Kerouac schrieb, von "The Town and the City" über "Doctor Sax" (geschrieben 1952, gedruckt 1959), bis zur sich mühsam abgerungenen "Verblendung von Duluoz" von 1968, war autobiografisch gesättigt, sprachlich hochtemperiert. Es war "Autofiktion" lange vor Annie Ernaux, Édouard Louis oder Karl Ove Knausgård. In Büchern und auf Websites wird heute Entzifferung betrieben, werden Klarnamen genannt und Kurzviten aufgefächert.

Nimmt man die jüngste deutschsprachige Kerouac-Biografie von Nicola Bardola zur Hand - "Jack Kerouac: Beatnik, Genie, Rebell" (Goldmann, München 2022, 368 Seiten, 22,70 Euro) -, lässt der Untertitel Schlimmes befürchten. Dennis McNally verwarf überzeugend in seiner 1978 erschienenen Biografie ("Desolate Angel: Jack Kerouac, The Beat Generation & America"), die Bardola nicht erwähnt, dass Kerouac kein Beatnik war und nur in Grenzen Rebell. Und Genie? Wohl eher, wie Bardola richtig meint, eine Ikone, widerspruchslos verehrt.

Bardola schreibt locker, sein Buch mutet an wie ein langes Magazinporträt. Erzählerisch wie atmosphärisch ist es den detaillierten Biografien Ann Charters’ ("Kerouac: A biography") oder McNallys unterlegen. Als Einführung eignet sich der Band, vor allem, weil er Kerouacs ikonischen Nachhall skizziert. Dass Kerouac von der Counterculture-Bewegung der Sechziger Jahre in Beschlag genommen wurde, war eher falsch - und einseitige Lektüre.

Er stand den sozialen Entwicklungen ab 1960, von der Wahl John F. Kennedys bis zur Bürgerrechtsbewegung, distanziert, fast indifferent gegenüber. Dass er katholisch erzogen worden war, erklärt nicht wenige seiner lebenslang getriggerten Schuldgefühle. Dazu kam der Buddhismus, zumindest seine Spielart davon.

Liest man etwa den mit Kerouac aus der Ferne befreundeten Lyriker Gary Snyder, so erkennt man bei diesem wirklich tiefe Umkrempelungen im Leben und Denken. Bei Kerouac nicht. Dafür kann man in "Dr. Sax" und in "Tristessa" verifizieren, wie gründlich er englische Romantiker las, etwa Shelley und Keats. Dazu kamen Einflüsse seitens des Transzendentalismus.

Mystische Ekstase

Benedict Giamo schrieb in "Kerouac, the Word and the Way" über ihn, den "Prosakünstler als spirituell Suchenden": "Als moderner Mystiker glaubte Kerouac, dass ein direktes Wissen um Gott, spirituelle Wahrheit und letztgültige Wirklichkeit durch erfahrene Subjektivität (als Intuition oder Einsicht) gewonnen werden könne. Dies war sowohl sein Einsatz als auch das Vehikel, um sich anzureichern - sich mit Leben zu betrinken (wobei stets Alkohol und/oder Drogen behilflich waren). Sein Ziel aber war es nicht, sich sinnlos zu betrinken; vielmehr wollte er einen Seinszustand der Ekstase erreichen, um ein mystisches Band mit dem Göttlichen oder Ultimativen zu knüpfen."

Oder wie es ein amerikanischer Literaturkritiker pointiert formulierte: Kerouac wollte kein Philip Roth sein. Was er sein wollte, das war eine Jazz-Version von Sor Juana Inés de la Cruz, der mexikanischen Nonne und mystischen Dichterin des Barock. Über sie schrieb ihr Landsmann Octavio Paz: "Sie war der vollendete und vollkommene Ausdruck ihrer Welt und zugleich deren Leugnung." Und: "Die wahre Sor Juana ist allein, von ihren Gedanken zernagt. Zernagt und getröstet." Was Wort für Wort, von Vollendung zu Einsamkeit, Zernagtheit und Weltleugnung, auch für Kerouac gilt.

Der "Paris Review" sagte Jack Kerouac im Sommer 1968: "Ich habe meine ganze Jugend damit verbracht, langsam zu schreiben, mit Überarbeitungen und endlosem Wiederkäuen von Mutmaßungen und Streichungen, sodass ich einen Satz pro Tag schrieb und der Satz kein Gefühl hatte. Verdammt, Gefühl ist das, was ich in der Kunst mag, nicht Schlauheit und das Verbergen von Gefühlen."

Die Bücher von Jack Kerouac sind auf Deutsch, teils neu übersetzt, bei Rowohlt erschienen.

Alexander Kluy ist Journalist, Kritiker, Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen zu literatur-, kunst- und kulturhistorischen Themen.