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Vom Fußballer zum angeblichen Verräter und tatsächlichen Lebensretter.
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Warschau. In der 23. Minute des WM-Achtelfinalspiels 1938 zwischen Polen und Brasilien trug sich Friedrich Scherfke in die Annalen des polnischen Fußballs ein. Ein brasilianischer Verteidiger brachte Ernest Willimowski im Strafraum zu Fall, den fälligen Elfmeter verwandelte Scherfke souverän zum zwischenzeitlichen 1:1. "Das war meine Arbeit", erinnerte sich der Schütze später: "Ich habe in die rechte Ecke geschossen, der Tormann kam nicht an den Ball." Nach einem grandiosen Spiel verloren die Polen jedoch noch mit 5:6. Das erste polnische WM-Tor durch Scherfke ist heute jedoch kaum noch im polnischen Bewusstsein vorhanden.

Der im Spielbericht als Fryderyk Szerfke angeführte Mittelstürmer war nämlich Angehöriger der deutschen Minderheit in der Zweiten Polnischen Republik. Seine Beschreibung auf der Homepage des Zweitligisten Warta Poznan ist eher dürftig gehalten. Seine 132 Ligatore, seine Erfolge bei den Olympischen Spielen 1936 sowie der Meistertitel 1929 werden erwähnt. Ansonsten ist Scherfke weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei bietet sein ungewöhnliches Leben genug Stoff für eine Kinoverfilmung.
Angehöriger der deutschen Minderheit
Geboren wurde Scherfke am 7. September 1909 in Posen als Untertan des deutschen Kaisers Wilhelm II. Die Mehrheit des polnischen WM-Teams von 1938 waren zweisprachige Oberschlesier, die von den Behörden und dem Fußballverband PZPN als Polen angesehen wurden. Scherfke hingegen galt offiziell als Angehöriger der deutschen Minderheit, auch weil er Protestant war. Mit seinem Bruder Günther, mit dem er das größte Gymnasium der deutschen Minderheit in Posen besuchte, sorgte Scherfke schon in den Jugendmannschaften von Warta für Aufsehen. 1925 schlossen sie sich dem 1912 gegründeten Verein an, der bekannt dafür war, die besten polnischen Spieler anzulocken.
Im Jahr 1929 wurden die Brüder mit dem Klub polnischer Meister, und Friedrich Scherfke wurde zum Aushängeschild des Vereins. "Er zeichnete sich durch ungewöhnlich gute Umgangsformen aus. Auch auf dem Spielfeld. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals brutal gespielt oder gefoult hätte", erzählte ein Mitspieler aus Scherfkes Jugendzeit in Thomas Urbans Buch "Schwarze Adler, weiße Adler". Der in Warschau lebende deutsche Journalist beschäftigt sich in diesem Buch mit der deutsch-polnischen Fußballgeschichte und bringt darin viel Wissenswertes zu Tage.
Das Tor gegen Brasilien machte Friedrich Scherfke zu einer bekannten Persönlichkeit in der Stadt, vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zogen die Menschen auf den Posener Straßen den Hut vor ihm. 1932 hatte ihn Nationaltrainer Jozef Kaluza erstmals ins Nationalteam berufen, er debütierte gemeinsam mit Warta-Tormann Marian Fontowicz gegen Lettland, konnte aber nicht überzeugen. Auf seinen nächsten Einsatz im weißen Trikot musste er drei Jahre warten, erst der damalige deutsche Trainer Kurt Otto schenkte ihm wieder Vertrauen.
Dem vierten Platz bei den Olympischen Spielen 1936 folgte der legendäre Auftritt bei der Weltmeisterschaft in Frankreich. Dabei war Scherfke gar nicht für das Aufgebot vorgesehen gewesen. Durch die Verletzung seines Konkurrenten schaffte er aber den Sprung in den Kader, nach der WM führte er die Polen sogar einmal als Kapitän aufs Feld. Es war jedoch sein letzter Einsatz im polnischen Team.
Als Volksdeutscher in Polen registriert
Die zunehmenden politischen Spannungen zwischen Polen und Nazideutschland sowie der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhinderten weitere Einsätze. Posen wurde an das Deutsche Reich angeschlossen, unter dem SS-Führer Arthur Greisler begann eine fünf Jahre andauernde Schreckensherrschaft. Scherfke ließ sich als Volksdeutscher registrieren, um nicht als "Verräter am Deutschtum" dazustehen, wie es damals hieß. 1940 übernahm er die Führung des neugegründeten 1. FC Posen. Er wurde zwar auch zur Wehrmacht eingezogen, konnte aber weiterhin die elterliche Autowerkstatt betreiben.
Etwa zwei Monate nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Posen sollte sich für seinen Teamkollegen bei Warta, Marian Fontowicz, die Freundschaft zu Scherfke bezahlt machen. In Uniform sprach er dessen Frau auf der Straße an. Diese erschrak zuerst, erzählte dann aber, dass ihr Mann in Kriegsgefangenschaft geraten sei und ins "Altreich" deportiert werden sollte. Fontowicz wurde dann aber nie dorthin gebracht, an einem Posener Bahnhof wurde er von einem deutschen Soldaten aus dem Zug gezogen. "Marian, du bist in Posen. Du kannst nach Hause gehen", waren die Worte, die Fontowicz hörte. Ob der Soldat wirklich Scherfke war, konnte er im Dunkeln nicht erkennen.
Von der Deportationsliste gestrichen
Sicher ist, dass Scherfke drei weiteren Warta-Spielern helfen konnte. Er sorgte dafür, dass die Frau des Reservetormanns Zbigniew Szulc von einer Deportationsliste gestrichen wurde. Boleslaw Gendera, der neben dem Warta-Stadion verbotenerweise Fußball gespielt hatte, musste dank Scherfke mit keinen Konsequenzen rechnen. Schließlich half er auch Michal Flieger, der sich dem Widerstand angeschlossen hatte.
Scherfke warnte den Linksverteidiger aus der Meistermannschaft von 1929 zweimal vor der drohenden Festnahme. Wie er von den Plänen der Gestapo erfuhr, ist unklar. Der Mittelstürmer unterstützte nicht nur ehemalige Weggefährten, sondern auch die Familie von Krystyna Dembecka.
"Es kam ein junger Mann in Zivil zu uns", sagte die heute betagte Frau in einem Artikel der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". "Er informierte uns, dass er im Auftrag seiner Eltern komme, und dass wir auf einer Deportationsliste stehen und die Stadt schnellstmöglich verlassen sollen. Auch den Termin hat er uns genannt." Mit seinem Engagement rettete Scherfke womöglich auch seinem Bruder Günther, der aus ungeklärten Gründen auf der Todesliste der Untergrundarmee AK stand, das Leben. Das Verdikt wurde jedoch nie vollstreckt, wahrscheinlich waren der AK die Taten des "guten Deutschen" bekannt.
1942 dürfte ihn die Gestapo wegen seiner Kontakte zu Polen ins Visier genommen haben. Bei einem weiteren Treffen mit der Ehefrau von Marian Fontowicz sah er sich um, ob ihm niemand gefolgt war. Und seinem ehemaligen Mitspieler Stanislaw Krajna sagte er, dass er nichts mehr tun könne. 1945 wurde Scherfke im Rang eines Unteroffiziers in Jugoslawien verwundet, vor der Stadteinnahme von Posen durch die Rote Armee holte er seine Frau und seinen vierjährigen Sohn, um sie zu Verwandten nach Mecklenburg zu bringen. In West-Berlin eröffnete er nach dem Krieg ein Möbelgeschäft, Anfang der 1980er Jahre zog er zu seinem Sohn Michael nach Hessen.
Unbekannte Heldentaten - auch für den Sohn
1983 verstarb Friedrich Scherfke nach einer schweren Erkrankung in Bad Soden. In Polen wurde der Name Scherfke, der in der Volksrepublik den Ruf eines Verräters hatte und dem eine angebliche Tätigkeit bei der Gestapo vorgeworfen wurde, mittlerweile reingewaschen.
In Deutschland sind seine Heldentaten weitgehend unbekannt. Auch sein Sohn wusste lange nichts davon. Mit ihm hat Friedrich Scherfke nie über seine Posener Vergangenheit gesprochen. Erst durch die Recherchen des Autos Thomas Urbans wurde Michael Scherfke bewusst, dass sein Vater zahlreiche Leben gerettet hat.