Analyse: Der totgeglaubte Ost-West-Konflikt zieht von Russland über die Ukraine nach Europa. | Kann eine Ukraine-Konferenz in Genf die Eskalation stoppen?
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Wien. Der Dritte Weltkrieg begann am Donnerstag, dem 27. März 2014. 10.000 Soldaten der russischen strategischen Streitkräfte bereiteten einen großangelegten Nuklearschlag vor, so lautete zumindest die Übungsannahme. Nach einem Bericht der russischen Tageszeitung "Nezavisimaya Gazeta" dauerten die Atom-Manöver drei Tage lang, doch der Übung wurde angesichts der immer heißer werdenden Krise in der Ukraine international zunächst kaum Beachtung geschenkt.
Militärische Beobachter wissen seit Jahren, dass Russland immer mehr Wert auf seine nuklearen Kapazitäten legt, vor allem, um damit die seit dem Ende der Sowjetunion stetig zurückgegangenen konventionellen Fähigkeiten auszugleichen. Schon 1997 änderte Moskau die Nukleardoktrin: Russland würde sein Atomwaffenarsenal für den Fall einer "existenziellen Bedrohung der Russischen Föderation einsetzen", hieß es in einem Strategiepapier. Im Jahr 2000 wurde die Doktrin erneut erweitert: Russland würde seine Nuklearwaffen "als Antwort auf eine großangelegte Aggression konventioneller Waffensysteme in für die Russische Föderation kritischen Situationen" einsetzen. Im Klartext: Russland behält sich die Möglichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes vor, auch wenn Russland selbst gar nicht das Ziel einer Aggression war. 2012 hatte Russlands Präsident Wladimir Putin in einem Kommentar für das Fachmagazin für internationale Politik, "Foreign Policy", geschrieben: "Wir werden unsere strategischen Abschreckungskapazitäten unter keinen Umständen aufgeben. Wir werden diese sogar stärken." Vor diesem Hintergrund ist wohl auch das Manöver der Nuklearstreitkräfte von Ende März sowie vom Oktober vergangenen Jahres zu verstehen.
Nukleares Säbelrasseln als Signal an den Westen?
Allerdings haben die jüngsten Manöver in westlichen Militärkreisen zu größter Beunruhigung geführt: Ist das nukleare Säbelrasseln ein Signal an den Westen, dass Moskau zum Äußersten bereit ist, um seine Interessen in der Ukraine zu schützen? Oder bedeutet das, dass eine russische Annexion der Ost-Ukraine bevorsteht und man die Nato mit diesen Drohgebärden vor einer Verstärkung der Präsenz an den ukrainischen Grenzen in der Slowakei, Polen, Ungarn und der Türkei, warnen will? Im "Nezavisimaya Gazeta"-Artikel heißt es einerseits, das Manöver sei schon im Dezember 2013 für 2014 angekündigt worden, habe also mit der Ukraine-Krise gar nichts zu tun, andererseits schließt der Text mit dem Satz, dass das Manöver "angesichts der gegenwärtigen Situation auf der Welt" besonders wichtig sei.
Noch beunruhigender für die militärischen Beobachter der Nato ist freilich eine rund 35.000 bis 40.000 Mann starke Truppe russischer Soldaten, die seit Wochen im Grenzgebiet der Ukraine in höchster Alarmbereitschaft und damit voll einsatzfähig ist. In mehr als 100 verstreuten Verfügungsräumen seien Panzer, Artillerie, Hubschrauber, Kampfflugzeuge sowie Spezialkräfte stationiert, das geht zumindest aus Aufnahmen von Nato-Spionagesatelliten hervor.
Russland fürchtet wiederum nicht ganz zu Unrecht, dass die Ukraine im Lichte der Ereignisse der vergangenen Wochen so schnell wie möglich die Nato-Mitgliedschaft anstreben könnte. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat diese Möglichkeit in einem Kommentar in der Berliner Tageszeitung "Die Welt" explizit erwähnt, jeder souveräne Staat in Europa habe die Möglichkeit, über sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Und beim nächsten Nato-Gipfel im September wird ein Tagesordnungspunkt "Ukraine" sicherlich ebenso wenig auf der Agenda fehlen wie Debatten darüber, wie das nordatlantische Bündnis mit dem in den vergangenen Monaten vom Partner zum Feind zurückmutierten Russland weiter verfahren will.
Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier versucht unterdessen alles, um eine weitere Verschärfung der Lage zu verhindern. Eine Rückkehr zu einer Verteidigungspolitik der Abschreckung kann sich Deutschland nicht leisten: Die Bundeswehr hatte im Kalten Krieg 495.000 Soldaten unter Waffen, 4100 Leopard-Kampfpanzer und 600 Kampfflugzeuge, das Verteidigungsbudget machte drei Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Heute sind es nur mehr 1,2 Prozent, die Stärke der Bundeswehr ist auf 185.000 Soldaten gefallen, die allgemeine Wehrpflicht ist passé. Fällt in diesen wirtschaftlichen Krisenzeiten auch noch die Friedensdividende weg, sind die Aussichten auf wirtschaftliche Erholung in Europa endgültig dahin. Aber wenn Russland nun seine Zukunft gegen den Westen und nicht mehr gemeinsam mit dem Westen sehe, dann müsse eine neue Abschreckung gefunden werden, sagte ein hoher Militär dem deutschen Nachrichtenmagazin "Spiegel". Der polnische Außenminister Radoslav Sikorski schlug vor, zwei Nato-Brigaden (rund 10.000 Soldaten) in Polen zu stationieren, die baltischen Staaten wollen ebenfalls Nato-Truppen auf ihrem Territorium und Moldau möchte sich zumindest in eine rasche EU-Mitgliedschaft retten. An der Ostgrenze der Ukraine wiederum werden bereits Gräben ausgehoben, die lokale Bevölkerung witzelt bereits über die Behelfs-Befestigungsanlage "Maginot-Linie".
Die kalten Krieger haben zweifellos Konjunktur: in Moskau, im Brüsseler Hauptquartier der Nato und wohl auch in Washington und Berlin. Kiew hat bereits wegen Militärhilfe bei der Nato vorgefühlt. Bisher hat die Nato allerdings stets vermieden, Moskau durch Truppenstationierungen in früheren Warschauer Pakt-Staaten zu provozieren - die Nato schloss 2008 die Tür für einen Beitritt der Ukraine. Gleichzeitig hat es den Anschein, als wolle Moskau zumindest derzeit die Lage in Donezk, Charkiw und Luhansk nicht weiter eskalieren lassen, die Zahl der pro-russischen Demonstranten war dort zuletzt im Sinken begriffen.
Doch was will Putin? Russland versucht mit dem anhaltenden Druck auf die Ukraine sicherzustellen, dass die neue Regierung in Kiew die von Moskau gewünschte Förderalisierung vorantreibt und die Rechte der ethnischen Russen und die Verwendung der russischen Sprache in der Ukraine gewährleistet. Sollte die Ukraine sich nämlich aus der russischen Einflusssphäre befreien, wäre das ein schwerer Schlag für Russlands Präsident Wladimir Putin.
"Mit der Föderalisierung soll die Ukraine zerschlagen und unterworfen werden", sagt Lilia Shevtsova, eine Analystin des Carnegie Moscow Center in der "New York Times", "das bedeutet, dass Moskau sich jederzeit einen Teil der Ukraine schnappen kann". Der Oppositionspolitiker Wladimir A. Ryschkow wird in demselben Text mit den Worten zitiert, dass Putin erstens eine neutrale Ukraine und zweitens eine von Moskau abhängige Ukraine wolle - Putins Paradoxon.
Doch kommt er nun, der Dritte Weltkrieg? Das derzeitige Worst-Case-Szenario ist allenfalls das Modell Krim II, also einer Annexion der Ostukraine; falls die Proteste in Donezk außer Kontrolle geraten oder eine Eskalation dort von pro-russischen Aktivisten orchestriert wird. Zudem fürchten die Politiker in Kiew, dass Moskau in nicht allzu ferner Zukunft ein Referendum verlangt, sich daraufhin die Ostukraine abspaltet und russische Truppen den Separatisten zu Hilfe eilen.
Ein solches Szenario lässt allerdings Raum für dramatische Eskalationplanspiele: einen Bürgerkrieg in der Ukraine, einen Wirtschaftskrieg zwischen Russland und dem Westen oder gar Scharmützel, in die Nato-Truppen verwickelt werden.
Moskau bastelt an "seltsamen Allianzen"
Der an der renommierten Princeton-Universität lehrende österreichische Konfliktforscher Wolfgang Danspeckgruber sieht für den Fall einer Zuspitzung noch einen möglichen Konfliktherd: die zwischen Polen und Litauen eingezwängte russische Exklave Kaliningrad. Bei einem Treffen mit der "Wiener Zeitung" im Hotel Bristol spricht er von den "sieben brandgefährlichen Ks: Kuba, Kaukasus, Kaliningrad, Kaschmir, Kurdistan, Kosovo, Krim". Russland könnte dem Westen in Zukunft nicht nur in Kaliningrad Schwierigkeiten machen, sondern auch via das moskautreue Transnistrien die Republik Moldau bedrängen oder in einzelnen EU-Mitgliedsstaaten für Unruhe sorgen: So hat etwa die bulgarische Nationalistenpartei Attack angekündigt, den Sturz der Regierung betreiben zu wollen, wenn diese weitere Sanktionen gegen Russland unterstützt. "Moskau bastelt an neuen, seltsamen Allianzen", analysiert Danspeckgruber. In der Tat ist auffällig, dass Russland die Bande mit der britischen Nationalistenpartei UKIP, der ungarischen Rechtsextremenpartei Jobbik sowie der rechtspopulistischen Front National und der FPÖ gefestigt hat.
Danspeckgruber warnt davor, dass sich derzeit in der Ukraine-Krise einzelne, jede für sich genommen nur wenig gefährliche Komponenten zu einer brisanten Mischung zusammenmengen. "Es gilt das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen von Handlungen", die Eskalationsspirale sei bereits zu weit vorwärtsgedreht worden. Danspeckgruber begrüßt daher den Vorschlag des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, eine internationale Ukraine-Konferenz abhalten zu wollen. "Dazu wären kreative Ideen aus Österreich durchaus erwünscht", sagt Danspeckgruber. Nach Informationen der "Wiener Zeitung" ist Wien als möglicher Tagungsort allerdings bereits vom Tisch, das Rennen dürfte Genf machen. Ein kritisches Datum sind jedenfalls die für 25. Mai angesetzten Präsidentenwahlen in der Ukraine. Zwei Kandidaten sind Moskau nicht unbequem: Mikhail Dobkin, der Kandidat der Partei der Regionen, und Julia Timoschenko, die mit Putin während ihrer Zeit als Premier eine gute Arbeitsbeziehung aufgebaut hatte.
Eine konfrontative Haltung gegenüber Moskau kann die Ukraine sich ohnehin nicht leisten, rund ein Drittel der ukrainischen Exporte gehen zum östlichen Nachbarn Russland. Dazu ist Kiew völlig von russischen Gaslieferungen abhängig. Am Ende, hofft der Innsbrucker Politikwissenschaftler und Russland-Experte Gerhard Mangott, wird die Vernunft siegen. "Die Interdependenzen zwischen Russland, der Ukraine und Europa sind einfach zu groß", sagte Mangott im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
Einen Kalten Krieg können weder Russland noch Europa sich leisten.
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