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Alexej Nawalny bringt tausende Unzufriedene auf die Straßen - kein gutes Omen für Putin, gegen den er 2018 antreten will.
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Moskau/Wien. Mit einem solch spektakulären Wahlkampfauftakt hatte nicht einmal Alexej Nawalny (Bild) selbst gerechnet. Russlands bekanntester - überlebender - Oppositionspolitiker, der 2018 Wladimir Putin bei der Präsidentenwahl herausfordern will, hätte es schon als Erfolg gefeiert, wenn ein kleines Grüppchen Hartgesottener seinem Aufruf gefolgt wäre, sich seinem sonntäglichen "Anti-Korruptionsspaziergang" anzuschließen. Doch es kamen Zehntausende - nicht nur in der Metropole Moskau strömten die Massen auf die Straße -, NGOs sprechen von 10.000 Teilnehmern. Auch in anderen Städten, von Wladiwostok bis St. Petersburg, manifestierte sich der latente Unmut über die herrschende Machtelite in Demonstrationsmärschen. Es waren die ersten Massenproteste seit dem Winter 2011/12.
Vor allem Russlands junge Generation hat genug von der korrupten Politikerkaste - die bis hinauf zum Kreml jedes Jahr am Fiskus vorbei dutzende Milliarden Dollar auf anonymen Offshorekonten hortet, während es der Bevölkerung selbst an einer Basis-Gesundheitsversorgung mangelt. "Die Korruption stiehlt unsere Zukunft", beklagten sich die Demonstranten am Sonntag denn auch auf ihren Bannern. Der offenbar völlig überrumpelte Kreml reagierte mit Massenverhaftungen, auch Nawalny fasste wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Versammlung 15 Tage Polizeiarrest aus. 15 weitere drohen ihm wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt.
Solange die Ölmilliarden reichlich flossen und die Kurve der Haushaltseinkommen langsam, aber beharrlich nach oben zeigte, drückten viele Russen noch ein Auge zu. Doch seit der Krise, ausgelöst durch den Absturz des Ölpreises und verstärkt durch die westlichen Sanktionen, haben viele die Nase voll von der unersättlichen Gier ihrer ohnehin in Luxus schwelgenden Politiker.
Das Fass zum Überlaufen brachte ein Millionen Mal angeklicktes Video auf YouTube, in dem Nawalny vor einigen Wochen die Finanzen von Regierungschef Dmitri Medwedew Stück für Stück auseinandernahm. Zum Vorschein kamen zwei Luxusjachten, mehrere schlossartige Villen und ein mehrere Hektar großer Weinberg in Italien, die sich der Putin-Vertraute über ein Netz aus Strohmännern, Scheinfirmen und Fonds illegal angeeignet haben soll. Offiziell seien die Gelder als Spenden oder Kredite deklariert worden; in Wahrheit handele es sich aber um Bestechungsgelder, so die Behauptung Nawalnys, der als Belege öffentlich zugängliche Unterlagen präsentiert hatte, darunter Firmen- und Grundstücksverzeichnissen. Die Regierung werde solche "propagandistischen Ausfälle" nicht kommentieren, ließ Medwedew über seine Sprecherin ausrichten. Nawalny wolle nur auf seine Präsidentenkandidatur aufmerksam machen.
Der Aktivist, Blogger und Rechtsanwalt Nawalny und seine Stiftung zur Bekämpfung von Korruption kritisieren immer wieder ranghohe Regierungsmitglieder für vermeintlichen Amtsmissbrauch und Korruption. Nun hatte er sich Medwedew vorgenommen - und gegen diesen am Sonntag erfolgreich die Massen mobilisiert.
Präsident Putin, der nichts mehr fürchtet als neue Massenproteste, die seine geplante Wiederwahl im kommenden März überschatten könnten, reagierte wie ein in die Enge getriebener Autokrat. Allein in Moskau ließ der ehemalige KGBler am Sonntag mehr als 1000 Kundgebungsteilnehmer festnehmen (die Polizei spricht von 700). Hundertschaften von schwer bewaffneten Bereitschaftspolizisten patrouillierten im Zentrum der Elf-Millionen-Metropole, als die Demonstranten schon längst wieder den Heimweg angetreten waren. Ein Helikopter kreiste über den Demonstranten. Auch in anderen Städten kam es zu zahlreichen Festnahmen. Im Vorfeld waren sämtliche Protestkundgebungen im Land nicht nur untersag worden, Putins Pressesprecher Dmitri Peskow hatte diese ausdrücklich für illegal erklärt. Den Teilnehmern droht demnach nicht nur eine Pönale, sondern auch Gefängnis. Dass dennoch so viele Russen auf Nawalnys Zuruf hin den Schritt auf die Straße wagten, zeigt das Ausmaß der Frustration, die sich mittlerweile in den Ballungszentren aufgestaut hat.
Auch Nawalny wird den Kampf nicht aufgeben. Selbst im Gerichtssaal ging Nawalny in die Gegenoffensive: "Mehr als tausend Menschen sind gestern festgenommen worden, aber es ist unmöglich, Millionen festzunehmen", warf der 40-Jährige dem Richter entgegen.
Der seit der Ermordung des Putin-Kritikers Boris Nemzow 2015 bekannteste Oppositionelle Russlands ist entschlossen, Putin bei der Präsidentenwahl in einem Jahr herauszufordern. Doch seine Kandidatur ist alles andere als gesichert. Putin hat eine tiefe Abneigung gegen starke, kritische Mitbewerber. Und so sorgte der Kreml vor, um den Kontrahenten jederzeit ausbremsen zu können. Die Justiz überzog Nawalny mit Strafprozessen: Zuletzt war der Blogger Anfang Februar in einem neu aufgerollten Verfahren zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Dasselbe Urteil in derselben Causa wurde gegen ihn bereits 2013 gesprochen - der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte es allerdings wegen schwerer Fehler bei der Beweisführung aufgehoben. Nawalny hat bereits angekündigt, erneut vor den Gerichtshof in Straßburg ziehen zu wollen. Nach russischem Recht schließt eine Verurteilung eine Kandidatur für ein hohes politisches Amt grundsätzlich aus. Allerdings ist die Rechtslage dort nicht so eindeutig. Und Nawalny, selbst Jurist, argumentiert, dass er aufgrund der Bewährungsstrafe ohnehin bei der Wahl antreten darf.
Andererseits braucht Putin
Herausforderer, um den Urnengang nicht ganz gänzlich wie ein abgekartetes Spiel aussehen zu lassen. "Das Ziel des Kreml ist es, die nächste Wahl nicht wie einen völligen Scherz aussehen zu lassen. Nawalny wird deshalb in Reserve gehalten - wie ein Ass in einem Kartenspiel", erklärt die bekannte russische Politikanalystin Lilia Schewzowa. "Aber es ist nicht klar, ob diese Karte auch tatsächlich ausgespielt wird." Sie rechnet jedenfalls bis Jahresende mit einer Entscheidung des Kreml.