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Der Himmel über dem Camp Moussa Taleb

Von Thomas Seifert, Martina Burtscher sowie Manuela Molin und Axel Dietrich (VRisch.com)

Politik

Die "Wiener Zeitung" dokumentiert das Leben syrischer Flüchtlinge.|Zum 360°-Video.


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Beirut/Wien. 96 Zelte, eingezwängt zwischen halbverfallenen Lagerhallen und Feldern. 576 Einwohner, die meisten aus der Umgebung von Aleppo, Raqqa, Homs. Hier, in der Bekaa-Ebene, drängt sich ein Flüchtlingslager an das nächste. Das 96-Zelte- und 576-Seelen-Camp heißt Moussa Taleb. Es ist eines von 2000 Lagern syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge im Libanon.

Aysha ist eine von diesen 576 Bewohnern von Moussa Taleb. Sie ist 24 Jahre alt und Mutter von drei Kindern. Ihr jüngstes Kind war erst einen Monat alt, als Aysha sich in den Libanon aufmachte, weil es in Syrien zu gefährlich für sie geworden war. Nun lebt sie mit ihren Kindern seit zehn Monaten in Moussa Taleb. Eine traurige Mattigkeit liegt über dem Zelt, in dem sie mit ihren Kindern lebt, es gibt kaum Hausrat, keine Möbel. Aysha hat sprichwörtlich nichts außer dem Zelt und ein paar Decken. Ihr Mann hat sich nach Beirut auf den Weg gemacht, um Arbeit zu finden, seither hat Aysha aber nichts mehr von ihm gehört. Geld hat er der Familie keines mehr geschickt, jemand hat Aysha zugemunkelt, dass er nun mit einer Frau aus Marokko leben würde. Aysha musste immer mehr Schulden aufnehmen, um mit den Kindern über die Runden zu kommen, insgesamt sind es bereits 3000 Dollar. "Am Anfang hatte ich noch Hoffnung, dass sich unsere Situation verbessert, wenn wir hierher kommen, aber im Moment will ich einfach nur überleben. Ich will, dass meine Kinder überleben", sagt sie.

Hinter den am Horizont sichtbaren Bergen liegt Syrien, wo seit fünf Jahren ein grausamer Bürgerkrieg tobt, bei dem bereits 400.000 Menschen ihr Leben verloren haben. Das ist, als wären die Städte Graz und Salzburg ausgelöscht.

6,6 Millionen Menschen mussten ihr Zuhause verlassen und an einem anderen Ort in Syrien Zuflucht suchen. Das sind mehr Menschen, als in Finnland oder Dänemark leben. 4,8 Millionen Syrerinnen und Syrer - das entspricht der Bevölkerung Irlands - wurden durch den Bürgerkrieg gezwungen, Syrien zu verlassen. 2,7 Millionen flüchteten in die Türkei, 657.000 nach Jordanien. Und im Libanon, einem Land mit 6,2 Millionen Menschen, etwas größer als Kärnten, ein wenig kleiner als Tirol, leben heute 1,09 Millionen Menschen aus Syrien, die vor Kriegswirren und Gewalt geflüchtet sind. Die meisten von ihnen haben hier, in der Bekaa-Ebene, dem unmittelbaren Grenzgebiet zum Nachbarland Syrien, in Notunterkünften Schutz gefunden.

Die libanesische Regierung bemüht sich um Unterricht für die Flüchtlingskinder und ärztliche Betreuung für die Kranken - aber es fehlt an allem. Trotz der Hilfe des UN-Flüchtlingshochkommissariats und Hilfsorganisationen wie der Caritas ist der Libanon völlig überfordert mit dieser riesigen Zahl an Flüchtlingen.

Die größte Tragödie ist aber die Situation der in den Lagern lebenden Kinder. Jeder zweite Flüchtling im Libanon ist ein Kind und zwei Drittel aller syrischen Flüchtlingskinder können keine Schule besuchen.

"Viele von ihnen leiden unter den Kriegserinnerungen, ohne Bildung sieht die Zukunft für sie, die ihr Land eines Tages wiederaufbauen sollen, sehr düster aus. Es droht die Gefahr einer verlorenen Generation von Kindern, die hier aufwächst. Eine verlorene Generation, der von klein auf alle Zukunftschancen genommen werden", sagt Stefan Maier, der österreichische Nahost-Koordinator der Hilfsorganisation Caritas.

Die neunjährige Aisha kommt aus der Nähe der heftig umkämpften syrischen Großstadt Aleppo und lebt bereits seit drei Jahren mit ihren neun Geschwistern und beiden Eltern im Lager Moussa Taleb. Wie hat sie den Krieg erlebt? "Wir konnten nicht rausgehen zum Spielen. Das war nicht möglich, weil vielleicht gibt es Luftwaffenangriffe und Flugzeugangriffe. Darum kann man nicht draußen spielen gehen." Und jetzt, hier im Libanon? "Das Schönste, was ich am Tag mache, ist lernen. Das ist meine Lieblingsbeschäftigung."

Der Traum von Kartoffelnund einem Fahrrad

Der 10-jährige Abdallah ist direkt von Aleppo in den Libanon gekommen. Manchmal kommt ein Bus in das Lager, um Abdallah und andere Kinder in die Schule zu fahren. Das geschieht allerdings nicht regelmäßig. Aber wenn es Abdallah in die Schule schafft, sitzt er gemeinsam mit 50 anderen syrischen Kindern aus unterschiedlichen Flüchtlingslagern in einer Klasse. Abdallah möchte sehr gerne Englisch lernen. "Meine Zukunft stelle ich mir in Syrien vor, aber wenn ich träume, dann träume ich von Syrien und vom Krieg dort", sagt er.

Wir konnten in Syrien nicht mehr leben, deswegen sind wir hierher gezogen in den Libanon. Auf die Frage: "Was würdest Du Dir kaufen, wenn Du Geld hättest?" antwortet der kleine Abdallah: "Dann würde ich mir Kartoffeln kaufen, wenn ich Geld hätte." "Nur Kartoffeln?" "O.k., Kartoffeln und ein Fahrrad."

Der 17-jährige Adib verbrachte eineinhalb Jahre in der Türkei, bevor er als unbegleiteter Minderjähriger nach Wien geflüchtet ist, wo er nun seit 13 Monaten lebt. Seine zwei jüngeren Geschwister sind in der Türkei geblieben, er hat als ältester Sohn die gefährliche Reise alleine angetreten. "Wir haben viele gute Dinge über Österreich gehört, deshalb habe ich mich dafür entschieden, hierherzukommen", sagt Adib.

Er sitzt im Gras der Jesuitenwiese im Wiener Prater, unweit von Magdas Hotel, einem von der Wiener Caritas betriebenen Hotelprojekt, in dem auch die Flüchtlings-WG untergebracht ist, von der Adib einer der Mitbewohner ist. Die Sonne steht schon tief, es ist Abend. Sanftes Licht, satte Farben, Vogelgezwitscher, die perfekte Idylle. Eine Idylle, die im krassen Kontrast zur Erzählung von Adibs Flucht steht, wie er von Syrien in die Türkei geflüchtet ist. Wie es dann auf einem kleinen, sieben Meter langen Boot mit insgesamt wohl rund 35 Flüchtlingen an Bord Richtung Griechenland weitergegangen ist. Wie sie nach rund zwei Stunden von der griechischen Polizei aufgegriffen und auf eine Insel gebracht wurden. Und wie es dann von dort mit einer Fähre nach Athen weiterging, wo Adib nach zwei Wochen die Weiterreise nach Österreich organisiert hat. In einem "großen Wagen" sei er in Wien angekommen, hat sich auf den Weg zum Praterstern gemacht und von dort weiter nach Traiskirchen.

Er sei von Anfang an motiviert gewesen, Deutsch zu lernen, sagt Adib. "Der Grund, warum ich hergekommen bin, ist, damit ich eine gute Zukunft habe. Also muss ich die Sprache lernen, denn ohne die Sprache zu können, kannst du nichts machen, kannst keine Arbeit annehmen, nicht in die Schule gehen, kannst dich mit niemandem unterhalten." Also hat Adib begonnen, mithilfe von Software auf seinem Handy und YouTube-Videos Deutsch zu lernen. Nach vier Monaten konnte Adib einen Deutsch-Kurs besuchen, nach sechs Monaten hatte er einen Schulplatz.

"In der Türkei konnte ich ein Jahr und fünf Monate nicht in die Schule gehen, hier in Wien hatte ich nach sechs Monaten einen Schulplatz", sagt Adib. Er ist zufrieden in Wien. Doch wie alle Menschen, sagt Adib, hat er einen Traum. "Ich möchte, dass meine Familie hierherkommen und in Zufriedenheit leben kann und eine gute Zukunft hat. Und ich träume davon, dass meine Kinder, die ich eines Tages haben werde, gut und nicht so wie ich in Syrien gelebt habe, leben werden", sagt Adib.

Fluchtpunkt Wien: Aiyas Reise ins gelobte Land Österreich

Aiya ist 14 Jahre alt, lebt seit sechs Monaten in Österreich und ist über den Umweg Ägypten - wo sie vier Jahre mit ihrer Familie gelebt hat - nach Österreich gekommen. Sie ist mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Muhamed in einer Caritas-Unterkunft in Wien-Penzing untergebracht und hat einen Schulplatz in einer Waldorfschule bekommen. Aiya spricht schon ganz gut Deutsch, den größten Teil der Unterhaltung führt sie schon auf Deutsch, nur manchmal braucht sie die Hilfe der Übersetzerin, um sich verständlich zu machen. Die Familie hat gleich zu Beginn des Bürgerkriegs die Flucht ergriffen: Eine Rakete ist in einem Haus gegenüber eingeschlagen, der Schmuckladen des Vaters wurde geplündert - da hielt die Familie nichts mehr in der syrischen Hauptstadt.

Obwohl die Erinnerung an Damaskus mehr und mehr verblasst, so sagt Aiya, dass sie die Stadt vermisst, "den Staub", sagt sie und lacht, "und auch das Essen - obwohl mir das Essen hier in Wien sehr gut schmeckt". Ihr Vater wohnt in einer separaten Unterkunft im 20. Bezirk. Aiya genießt die Momente, in denen sie Wien erkunden kann, den Prater, die Donau, den "türkischen Markt" in Ottakring und im 20. Bezirk. "Meine Verwandten in Damaskus trauen sich an manchen Tagen nicht auf die Straße, so gefährlich ist es", erzählt Aiya. "Damaskus, das war das Paradies auf Erden, jetzt bleibt davon nichts mehr übrig, jetzt ist alles zerstört", sagt sie. Wunderbar sei es, dass Wien so sicher sei, die Menschen seien überaus nett.

Die Syrer, die hierherkommen, meint Aiya, sollten so rasch wie möglich die deutsche Sprache lernen und die Österreicher, die so viel geholfen haben, respektieren. Ihre Schule sei großartig, dort lernt sie nicht nur Deutsch und Englisch, sondern sogar Russisch. "Schwierig ist, dass die Wohnungen so teuer sind, es ist sehr schwer für meine Eltern, ein Dach über dem Kopf für uns zu finden", sagt sie. Aber immerhin, soweit sie gehört hat, sitzt keiner der Syrer auf der Straße, alle würden "irgendwo" wohnen, "im schlimmsten Fall in einem Camp".

"Was ist Dein Traum, wenn Du erwachsen bist?", fragt die Übersetzerin. "Ich möchte Ärztin werden, Unfallärztin. Ich möchte Menschen helfen. Oder Innenarchitektin. Ich male gerne, ich mag gern schöne Sachen", sagt Aiya. "Und wenn du dein Zimmer selbst gestalten könntest, was würdest du anders machen?" - "Die Wände in schönen Farben anmalen, ein paar Möbelstücke durch andere ersetzen", sagt sie. In der Ecke, das fällt erst jetzt auf, steht ein frischer Blumenstrauß. Als Aiya bemerkt, dass die Blumen Aufmerksamkeit erregen, erzählt sie, dass sie immer frische Blumen ins Zimmer bringt.

Ob Aiya denn eine Botschaft an österreichische Kinder und Jugendliche hat? "Wenn es eines Tages einen Krieg gibt, dann wartet man nicht zu lange ab, sondern flüchtet gleich, um die die eigene Zukunft zu retten."

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