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Analyse: Israels Premier Netanjahu ist nach seinem Wahlsieg auf teils weit rechte Partner angewiesen. Der diplomatische Kampf der Palästinenser gegen die Besetzung des Westjordanlands dürfte in die entscheidende Runde gehen.
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Jerusalem. Eine Demokratie in Gefahr? Hörte man in den Tagen vor den israelischen Wahlen den Herausforderern von Regierungschef Netanjahu zu, musste man zu diesem Schluss kommen: Unter Netanjahu habe Israel das demokratische Gleichgewicht, das der Staat seit seiner Gründung zu halten versucht, verloren. Die Regierung gefährde Grundrechte, um ihre Wähler am rechten Rand ruhig zu stellen. Und sie forciere eine Politik der Entfremdung sowohl von den westlichen Verbündeten als auch der israelischen Mittelschicht zugunsten einer Klientelpolitik, die einzig Hardliner, Wirtschaftsmogule und die religiöse Orthodoxie bediene. Die großen Themen der Protestkundgebungen von 2011, als hunderttausende im ganzen Land auf die Straßen gingen, kamen in der letzten Legislatur kaum über Gesetzesentwürfe hinaus.
Und doch: Israel hat am Wahltag zur 20. Knesset seine demokratische Vitalität bewiesen, zumindest innerhalb seiner international anerkannten Grenzen. Die Wahlbeteiligung lag mit voraussichtlich über 70 Prozent so hoch wie seit den turbulenten 1990er Jahren nicht mehr. Dies gilt insbesondere für die junge Generation: egal, welche Partei man im Kampagnenzentrum oder bei ihren Aktivitäten auf der Straße besuchte - überall wimmelte es von enthusiastischen Jungen. Und auch die arabischen Bürger, 20 Prozent der Bevölkerung, haben ihren Anspruch auf Integration in die politischen Prozesse des Landes deutlich formuliert. Bis anhin als Kleinparteien im Parlament marginalisiert, belegen die Vertreter der Vereinigten Liste der arabischen Parteien - zu denen mit Dov Chenin auch ein jüdischer Abgeordneter gehört - künftig 14 der 120 Sitze in der Knesset und stellen damit nach dem Likud und dem Zionistischen Bündnis die drittgrößte Fraktion. Von der arabischen Bevölkerung erfuhr der Zusammenschluss einen starken Rückhalt, in Städten wie Nazareth oder Umm-el-Fahm erhielt sie über 90 Prozent der Stimmen. Die arabische Stimme lässt sich, sofern der Zusammenschluss erhalten bleibt, im Parlament fortan nicht mehr so einfach überhören.
Araber als "fünfte Kolonne"
Israels Rechtsparteien, die sich regelmäßig dazu hinreißen lassen, ihre arabische Bevölkerung als "fünfte Kolonne" zu diffamieren, sollte diese Bereitschaft zur demokratischen Teilhabe - und damit zur Akzeptanz des Staates - begrüßen. Stattdessen hat Netanjahu noch am Wahltag diese größte Minderheit Israels brüskiert. Als die starke Wahlbeteiligung in den arabischen Städten und Dörfern bekannt wurde, appellierte er noch einmal an seine Wähler: die Araber seien "in Scharen" an die Urnen unterwegs. Ein Regierungschef für alle Israelis, als den sich Netanjahu in seinen milderen Momenten stets betrachtet sehen wollte, agiert anders.
Die Episode verdeutlicht, wie schwer Netanjahu der Politalltag nach dem ersten Rausch über den unverhofft deutlichen Wahlsieg noch fallen dürfte. Mit seiner Ansage, unter seiner Regentschaft werde kein Palästinenserstaat entstehen, stößt er die USA und die Europäische Union vor den Kopf, die keine Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung sehen. Palästinenserpräsident Abbas darf sich als heimlicher Gewinner der israelischen Wahlen fühlen: Netanjahu lieferte ihm leichtsinnig den Beleg, dass in Israel kein Partner für einen Frieden zu finden sei, und dass die Strategie der Palästinenserbehörde, auf diplomatischen Unilateralismus zu setzen, sich auszahlen könnte. Der bisher zurückgehaltene Antrag aus Ramallah, im Internationalen Gerichtshof gegen Israel vorzugehen, wird damit neuen Auftrieb erhalten. "Wir werden unsere Bemühungen verstärken und beschleunigen", sagte der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat am Mittwoch: "Dieser Schritt wäre nicht nötig, hatte die internationale Gemeinschaft Israel für seine Völkerrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen. Nun ist mehr denn je der Moment gekommen, um zu handeln."
Linke Fundamentalopposition
Der brachliegende Friedensprozess wird damit noch mühseliger wiederzubeleben sein. Ob den Worten Taten folgen werden, wird sich allerdings zeigen - auf beiden Seiten. Abbas kann sich Verstimmungen in der internationalen Arena nicht leisten. Und Netanjahu hat in der Vergangenheit bereits mehrfach Wahlversprechen zugunsten einer politischen Notwendigkeit oder der Sicherung seiner Position geopfert. Auch wenn er sich mit seinem rabiaten Wahlkampf weder in Washington noch Brüssel Freunde gemacht hat, läuft die Zeit möglicherweise für ihn. Barack Obamas Präsidentschaft endet in weniger als zwei Jahren. Folgt ihm ein Kandidat der Republikanischen Partei, darf sich Netanjahu auf amerikanische Gefolgswilligkeit freuen.
Im Weg stehen kann Netanjahu nur noch ein ehemaliger Abtrünniger: Moshe Kahlon (siehe Porträt). Finden die beiden dennoch zusammen, steht eine solide Rechtskoalition. Zumindest Kahlon wäre eine Besetzung, die auch für die geschlagene Linke annehmbar sein müsste: In der Sicherheits- und Auslandspolitik ein Konservativer, denkt Kahlon in Wirtschaftsfragen durchaus sozialliberal. Und könnte als Finanzminister nicht nur notwendige Reformen für eine gerechtere Einkommensverteilung verwirklichen, sondern seinen Einfluss zugunsten einer Zurechtstutzung des finanziell aufgeblähten Sicherheitsapparats, zu dem auch die Förderung des illegalen Siedlungsbaus im besetzten Westjordanland gehört, nutzen.
Für alle anderen Themen hat Jitzhak Herzog vom unterlegenen Zionistischen Bündnis, nachdem er Netanjahu zum Wahlsieg gratuliert hatte, bereits den Kurs seiner Partei angekündigt: Fundamentalopposition. Eine große Koalition mit dem Likud schließt er aus. Netanjahu versprach am Mittwoch nach einem Besuch an der Klagemauer den Bürgern zwar "Sicherheit und Wohlstand", übernahm also Teile von Herzogs Agenda. Die Polarisierung der israelischen Politik hält mit der Blockbildung jedoch weiter an. Und mit ihr der scheinbar ewige, unentwirrbare Nahostkonflikt.