Zum Hauptinhalt springen

Der Holocaust verschwindet im Vergessen

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutter war Chef des Auslandsressorts bei den "Salzburger Nachrichten".

Italien schafft Geschichte als Maturafach ab. Dabei sammelt sie nicht nur Jahreszahlen, sondern hinterfragt vor allem Entwicklungen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Italien hat Geschichte von der Liste der Maturafächer gestrichen. Ehe jemandem deshalb die Zornesader schwillt, eine Beruhigung: Geschichte bleibt an Italiens Gymnasien als Pflichtfach erhalten. Ein Problem hinter dieser Entwicklung: Italien hat sich im Gegensatz zu Deutschland oder Österreich nie mit seiner faschistischen Vergangenheit gründlich auseinandergesetzt. Und so könnten bei einer mündlichen Matura in Geschichte Wortgefechte darüber ausbrechen, wie viel Gutes der "Duce" doch für Italien geleistet habe. Auch dürfen Benito Mussolinis Ewigvorgestrige heute noch ungeniert öffentlich aufmarschieren und auf dem Markt Bücher vertreiben, die Italiens Geschichte seit 1919 "neu darstellen".

Soll uns das bekümmern und dazu verleiten, den Italienern eine seriöse Aufarbeitung ihrer Geschichte beibringen zu wollen? Dabei weiß laut einer aufwendigen Untersuchung knapp die Hälfte der Deutschen und Österreicher mit dem Begriff "Holocaust" - der Ermordung von sechs Millionen Juden - nichts anzufangen. Der Holocaust geschah vor 80 Jahren und entschwand aus welchen Gründen immer dem öffentlichen Bewusstsein.

Geschichte stellt nicht nur diesen industriell in Gaskammern verübten Megamord dar, sondern analysiert, warum das geschehen konnte. Und schon landen wir in der beklemmenden Geschichte des ursprünglich religiösen Antisemitismus, der dann über den wirtschaftlich getönten Judenhass zum sachlich haltlosen "Rassenkampf" führte. Da schrieben Berufshasser der germanischen "Herrenrasse" die Aufgabe zu, die "Unterrassen" der Juden und Slawen einfach auszurotten, um genügend Lebensraum zu erringen.

Geschichte reiht nicht nur Jahreszahlen an einander, vielmehr betreibt sie auch angewandte Psychologie: Warum und woher kam der Antisemitismus? Wie wird dessen Bild massiv so manipuliert, dass die Entwicklung in ein ideologisches Zerrbild passt? Geschichte sucht deshalb immer eine Antwort auf die Frage, warum eine Entwicklung so und nicht anders verlief. Da zählen aber nur beweisbare Fakten und nicht emotional angeheizte Meinungen. Deshalb war der "Tschusch" nicht ein geachteter "Gastarbeiter" aus dem Balkan, sondern ein missachteter armer Teufel, der für wenig Geld von uns verschmähte Arbeiten verrichtete, um seine Familie über Wasser zu halten.

Geschichte kennt kein Misstrauen gegenüber Fremdem - seien es Menschen oder Lebensformen. Bis herauf in die Zwischenkriegszeit zogen italienische Scherenschleifer mit ihrem Arbeitsgerät durch unsere Dörfer und verpassten Scheren und Messern neue Schärfe. Weil schäbig gekleidet, unrasiert und kaum eines deutschen Wortes mächtig, tauchte der Scherenschleifer als Schreckfigur in einem Kinderreim auf: "Italiano falsches Leut, krummes Messer, Bauch aufschneit." Trotzdem getrauten sich Österreicher eine Generation später zum Badeurlaub an die Adria.

Menschen brauchen etwas Skepsis gegenüber Unbekanntem als Schutz vor bösen Überraschungen. Und diese angeborene Vorsicht beuten Populisten aus, indem sie Ängste konstruieren oder verstärken: "Wollen Sie, dass Ihre Tochter mit einem Moslem anbandelt?"

Dagegen hilft natürlich Bildung. Aber es genügt auch ein ganz einfaches Rezept, das in fremden Ländern prima funktioniert: Man lernt in Fremdsprachen nur die drei Wörter "Bitte", "Danke" und "Entschuldigung" und tritt den Einheimischen leicht lächelnd gegenüber. So weckt man keine Skepsis gegen Ausländer und erlebt meist verblüffende Hilfsbereitschaft der "Eingeborenen".

Man muss also nicht unbedingt Geschichte studieren, um sich in der Fremde zurechtzufinden und nicht anzuecken.

Clemens M. Hutter war Chef des Auslandsressorts bei den "Salzburger Nachrichten".