Zum Hauptinhalt springen

Der Hut der Kirche brennt

Von Klaus Neundlinger

Gastkommentare

Der Brand von Notre-Dame sollte die Aufmerksamkeit auf den Gesamtzustand der Kirche lenken.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Mit Erschütterung haben Millionen Menschen die Bilder des brennenden Dachs der Pariser Kathedrale Notre-Dame gesehen. In kürzester Zeit waren der jahrhundertealte Dachstuhl abgebrannt und die Türme in den Kirchenraum gestürzt. Große Schäden sind zu beklagen, deren Reparatur Jahre brauchen wird. Obwohl das Feuer sich mit unglaublicher Geschwindigkeit ausbreitete, gelang es der Pariser Feuerwehr, eine noch schlimmere Katastrophe zu verhindern. Laut Experten fehlten 30 Minuten, und das Feuer hätte eine solche Kraft entwickelt, dass es das gesamte Gebäude mit seinen Schätzen vernichten hätte können.

Viel war in den darauffolgenden Stunden und Tagen von der Identität stiftenden Bedeutung dieses mittelalterlichen Baus die Rede. Nicht nur für Frankreich, als dessen historisches Zentrum die Île de la Cité gilt, jene Insel in der Seine, die den historischen Stadtkern ausmacht und auf der auch die Kathedrale steht. Die Solidaritätsbekundungen aus aller Welt hoben hervor, welch wichtiges Symbol diese Kirche für Europa, für dessen Kultur und Geschichte sei. Fast eine Milliarde Euro an Spenden waren wenige Tage nach dem Brand für den Wiederaufbau verfügbar, dazu Angebote aus vielen Ländern, Know-how und Expertise für die Rekonstruktion zur Verfügung zu stellen. Nicht zuletzt aus Wien, wo der Dombaumeister des Stephansdoms, Wolfgang Zehetner (aktuell Vorsitzender der Vereinigung der europäischen Dombaumeister), Bereitschaft bekundet hat, am Prozess der Wiederherstellung mitzuwirken. Es gilt, in nicht allzu ferner Zukunft dem kulturgeschichtlichen Denkmal seinen Glanz zurückzuerstatten.

Doch wie ist es um die Bedeutung dieses Sakralbaus tatsächlich bestellt? Diese Frage kann man im Grunde genommen auf alle (historischen und modernen) Kirchenbauten ausweiten, so wie sie letztlich die Kirche als Gemeinschaft der Lebenden und Toten betrifft. Nicht allein, aber vor allem jene heilige katholische Kirche, zu der zumindest diejenigen sich noch bekennen, die einen solchen Bau nicht nur wegen seiner kunsthistorischen Bedeutung besichtigen, sondern als Ort der gemeinschaftlichen Messfeier.

Bedeutungs- und Mitgliederschwund

Wie vielen Glaubensgemeinschaften in der westlichen Welt brennt der katholischen Kirche der Hut, und das weiß man nicht erst seit den Bildern mit dem brennenden Dachstuhl von Notre-Dame. Es ist eine Zeit der Not und Dringlichkeit, die durch den Bedeutungsschwund innerhalb der modernen Gesellschaften und den daraus resultierenden, nicht enden wollenden Mitgliederschwund, durch die Missbrauchsskandale und (nicht zuletzt) durch die Abkehr von der großen Reformbewegung des Zweiten Vatikanischen Konzils gegeben ist. Dabei gestaltet sich die Suche der Menschen nach Sinn und Orientierung heute kaum weniger intensiv als in der Vergangenheit. Viele Personen eint das Bedürfnis, sich Fragen zu stellen, die über die greifbare, verstehbare Wirklichkeit hinausgehen. Sie orientieren sich allerdings nicht mehr an der Kirche (oder den Kirchen), mit der sie oft nur die Selbstherrlichkeit männlicher Amtsträger, die frauenverachtenden Strukturen und das Auseinanderklaffen von Wort und Tat verbinden.

Viele Menschen jedoch versuchen nach wie vor, in ihren alltäglichen Handlungen das Evangelium ernst zu nehmen, in der Familie, im Beruf und im öffentlichen Leben. Sie leben das Wort Gottes, das dem Evangelisten Johannes zufolge "Fleisch geworden ist, das unter uns gewohnt hat". Für genau dieses Wort sind die Sakralbauten ein Ort der Versammlung und der Verkündigung. Doch bedarf das Wort des Evangeliums täglich aufs Neue der Fleischwerdung, der Inkarnation - und diese findet vor allem jenseits der Orte der Versammlung statt. Nur dort wird das Wort lebendig: in der Sorge um Alte, Kranke, Fremde und Kinder, um jene, die vom Weg abgekommen sind (die wir nicht be- oder verurteilen sollen), in der Sorge um den eigenen Weg, im eigenen Kind-werden, im Umgang mit der Verletzlichkeit des Menschen und, angesichts der sich abzeichnenden Klimakatastrophe, mit der Zerbrechlichkeit des Ökosystems, der Schöpfung.

Dass vor allem auch Frauen immer schon diese Tätigkeiten der Sorge übernommen haben, lässt den Kontrast zwischen der Praxis der Verkündigung und der Praxis der Fleischwerdung des Wortes noch stärker hervortreten. Nicht die verängstigten Apostel, sondern mutige Frauen wie Maria von Magdala waren es, die als Erste zu Zeuginnen der österlichen Botschaft der leiblichen Auferstehung wurden.

Bei seinem Frankreich-Besuch im Juni 1980 erinnerte Papst Johannes Paul II. daran, dass man Frankreich als "fille aînée de l’Église", als die "älteste Tochter" der Kirche bezeichnet: die Erstgeborene jener Glaubensgemeinschaft, die bis heute nicht nur "katholisch", sondern auch "römisch" heißt. Die Ausbreitung des christlichen Glaubens, der Verkündigung des Wortes Gottes (auch dies eine Geschichte, die voller Ambivalenz ist, in der menschliche Größe neben unfassbarer Grausamkeit steht), hat in Frankreich eine ihrer frühesten Wurzeln. Sie reicht bis an den Beginn des 6. Jahrhunderts n. Chr. zurück, als Chlodwig I., der als "Begründer" Frankreichs gilt, sich taufen ließ.

Notre-Dame steht für Neuerung in zweifacher Hinsicht

Wer immer durch die wunderschönen Städte Frankreichs fährt, findet dort sehr alte, unglaublich beeindruckende Kirchengebäude, die zum Verweilen und zur Stille einladen, besonders an heißen Sommertagen, an denen viele Reisende sich dort einfinden. Sie zeugen von der Altehrwürdigkeit dieser ersten großen Ortskirche. Nicht zufällig spricht man bei den frühen Kirchenbauten vom romanischen Stil, der die Wiege des Christentums, die griechisch-römische Antike und das Judentum, mit den west- und nordeuropäischen Regionen, Kulturen und Sprachen verbindet.

Dieser Stil wurde in Frankreich zur Mitte des 12. Jahrhunderts, also recht früh, von der Gotik abgelöst, und eines der ersten Zeugnisse für diese neue sakrale Architektur war Notre-Dame in Paris. Diese steht allerdings nicht nur für eine Neuerung in der Architektur, in der Gestaltung des Raumes, sondern auch noch für eine andere Innovation, die im Prinzip noch bedeutender für die Kultur des Abendlandes ist: In Notre-Dame wurden die Grundlagen für die Vokal-Polyphonie gelegt - jene Form der Mehrstimmigkeit, die die europäische Musik von allen anderen Musiktraditionen dieser Welt unterscheidet und die später auf die Instrumentalmusik übertragen wurde. Im 12. Jahrhundert erklangen dort zum ersten Mal die geistlichen Werke von Perotinus und Leoninus, jenen Mönchen, die als die Meister der Epoche von Notre-Dame (1160 bis 1250) in die Musikgeschichte eingingen. Auch heute noch sind viele Menschen fasziniert von den drei- bis vierstimmigen Klanggebäuden aus ferner Zeit, die von spezialisierten Sängern wie dem Hilliard Ensemble aufgeführt werden.

Wir leben in einer polyphonen, vielstimmigen Welt

Vielleicht sollte man auch diese fernen Klänge, diese zeitliche Resonanz bedenken, wenn man die Not und Dringlichkeit der Kirche heute betrachtet. Wir leben in einer polyphonen, vielstimmigen Welt. Menschen unterschiedlichster Kulturen, Angehörige verschiedener Religionen und immer mehr Menschen, die sich als nicht-religiös, agnostisch oder atheistisch verstehen, leben in offenen Gesellschaften neben-, mit- und manchmal auch gegeneinander. Diese Vielheit wird heute auch oft mit Begriffen wie Pluralität und Diversität bezeichnet.

Einer solchen Pluralisierung muss sich die Kirche stellen. Das fällt ihr einerseits sehr schwer und andererseits wieder sehr leicht. Es fällt ihr schwer, weil sie in unseren Breiten eine einst gesellschaftlich, kulturell und politisch einflussreiche Institution war. In wenigen Jahrzehnten hat sie viel an Macht verloren und beinahe alles an Glaubwürdigkeit verspielt. Andererseits fällt es ihr leicht, mit Polyphonie, Vielstimmigkeit und Pluralität umzugehen. Sie hat sich immer schon als umfassend verstanden und darüber unglaubliche Kräfte und Kompetenzen der Einbindung, der Zuwendung, des Zugehens und des Zupackens entwickelt. Wenn ich am Sonntagabend in die Messe gehe, haben im selben Kirchengebäude tagsüber Gottesdienste in drei bis fünf Sprachen stattgefunden. Darin steckt eine Herausforderung, aber auch eine Chance. Ob es sich in Richtung Turmbau zu Babel oder in Richtung Pfingstwunder entwickelt, steht in unserer Macht und Verantwortung.

Die Kirche war selbst schon immer eine polyphone, vielstimmige Institution, ein Ensemble an durchaus widersprüchlichen und einander widerstrebenden Kräften. Wie jede andere größere Glaubensgemeinschaft im Übrigen auch. So wenig es das Christentum gibt, so wenig gibt es den Islam, das Judentum oder den Buddhismus.

Integration des Anderen,des Fremden

Wenn die Kirche etwas kann - sofern ihre Angehörigen dies auch wollen -, dann ist es die Zuwendung, die Integration des Anderen, des Fremden ohne Ansehen von Status, Herkunft oder Orientierung. Jesus spricht hier eine klare Sprache. Ob in den Gleichnissen oder in der Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten, immer kreisen seine Überlegungen darum, die bestehende Ordnung, die Regeln, die Gewohnheiten infrage zu stellen. Nicht nur, weil man das geschriebene Gesetz interpretieren muss, sondern weil sich in unser tägliches Handeln, darin, wie wir miteinander umgehen, jene ungeschriebenen Urteile, jene Gewissheiten eingeschlichen haben, die dem Anderen nicht gerecht werden und verhindern, dass wir selber wachsen.

Tief haben mich die Bilder der brennenden Kathedrale in Paris erschüttert. Mögen viele Kompetenzen sich verbinden und zusammenarbeiten, damit in einigen Jahren Notre-Dame de Paris in neuem Glanz erstrahlen kann. Einstweilen sollten wir nicht vergessen, dass der Hut der Kirche schon lange brennt. Was wir diesbezüglich tun können? Das hängt davon ab, wie sehr wir imstande sind, uns von der Botschaft des Evangeliums erschüttern zu lassen.

Diese in alltäglich gelebte Praxis umzusetzen ist die Übung, die wir im Wiederaufbau eines christlichen Glaubens leisten können. Selbstvergewisserung im Glauben bedeutet allerdings beständige Prüfung und selten Gewissheit.

Zum Autor