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Der Hüter der parkenden Autos

Von Wenzel Müller

Reflexionen

Kurt Weber ist Garagenbesitzer in Wien. Mit 81 Jahren blickt er auf ein langes Berufsleben zurück, denkt aber durchaus nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen.


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Herr Weber vor der Tür seines Büros in der Apollogasse. Müller
© © Wenzel Müller

Das Haar ist silbern und akkurat gescheitelt. Dazu stets ein Anzug und Krawatte. So sieht der typische Bankdirektor in Filmen aus. Doch Kurt Weber ist nicht Bankdirektor, er ist Parkgaragenbesitzer, und nicht irgendeiner, sondern mit 81 Jahren der längstdienende in Wien, wenn nicht sogar in ganz Österreich.

Weber könnte schon seit langem die Beine hochlegen und den Lebensabend genießen. Doch das will er nicht, das kann er auch gar nicht. Er muss etwas zu tun haben, Verantwortung tragen und Entscheidungen fällen, nur dann fühlt er sich wohl. Und so findet er sich wie schon vor sechzig Jahren jeden Morgen in seinem Büro ein, in der Apollogarage in Wien-Neubau. Um 11.30 Uhr pflegt er Mittagspause zu machen. Er geht in seine Wohnung nebenan, kocht sich etwas (seit seine Frau vor drei Jahren gestorben ist, steht er selbst am Herd) und macht darauf einen Mittagsschlaf. Punkt 14.30 Uhr kehrt er wieder zurück an seinen Arbeitsplatz.

Keine Schranke bei der Einfahrt, auch kein Ticketautomat. Die Apollogarage ist etwas anders als die anderen Parkgaragen in Wien, vor allem älter, das fällt sofort auf. Im Hof steht eine runde Zapfsäule, wie sie vor einem halben Jahrhundert üblich war. Sie ist nicht mehr in Funktion, inzwischen mehr eine zur Schau gestellte Rarität, und allein der Umstand, dass sie nicht längst entsorgt wurde, zeigt, dass hier nicht allein der Effizienzgedanke zählt, sondern auch die Tradition. Die Apollogarage wurde 1931 gebaut und ist damit die zweitälteste in Wien (die älteste ist die Astoriagarage in Wien-Josefstadt).

Vergangene Zeiten

Zwischen Ein- und Ausfahrt der Parkgarage ein langgestreckter Bau. Das Büro von Weber. Teppich am Boden, fahles Neonlicht, gelbe Vorhänge. In den letzten Jahren und Jahrzehnten dürfte hier nicht viel verändert worden sein, nur ein Computer kam irgendwann dazu. Hinter einem Schreibtisch sitzt der Chef. Er ist in einem Alter, da bei vielen Menschen das Erinnerungsvermögen rapide nachlässt. Doch nicht so bei Weber, er kann sich bestens an vergangene Zeiten erinnern.

In dem Jahr, in dem er geboren wurde, 1931, baute sein Vater die Garage. Aber was heißt Garage? Nach den Erzählungen von Weber muss es so etwas wie ein Rundumservicecenter für das Auto gewesen sein, mit mehreren Werkstätten im Nebengebäude, wo unter anderem Zylindererzeuger, Sattler und Wagner ihre Dienste anboten.

Dazu muss man wissen, dass zu jener Zeit das Auto noch eine Holzkarosserie besaß. Im Hochparterre der Garage befand sich ein Verkaufsraum von Steyr-Autos. Eduard Weber, so der Name des Vaters, war Vertreter von Steyr in Wien. Mit dem Auto verkaufte er zugleich einen Parkplatz, so das Geschäftsmodell. Wer nämlich in den 1930er-Jahren ein Auto anmelden wollte, musste zugleich einen Garagenplatz nachweisen. Es war untersagt, das Auto länger als 24 Stunden auf der Straße stehen zu lassen. Aufgrund dieser Vorschrift kamen zu jener Zeit im Übrigen auch die sogenannten Hausherrengaragen auf, die man noch heute in manchen Hinterhöfen sieht.

Kurt Weber geht zum Glasschrank und holt einen kunstvollen Tankverschluss heraus. Einst war der eine veritable Kühlerfigur. Alle bei seinem Vater gekauften Autos erhielten dieses Schmuckstück. Das Technische Museum Wien hat es in seine Bestände aufgenommen, als ein wertvolles Dokument Wiener Sozial- und Technikgeschichte.

Anfang des vorigen Jahrhunderts bestimmten die Autos noch keineswegs das Straßenbild; sie waren vielmehr eine Seltenheit. Wenn Weber von diesen Zeiten erzählt, die noch gar nicht so lange zurückliegen, fühlt man sich geradewegs in eine fremde Welt versetzt. Die Bim gab es schon, Pferdefuhrwerke noch, und viele Menschen machten ihre Wege zu Fuß. Wobei die Wege oft kurz waren, denn die Geschäfte für den täglichen Bedarf befanden sich in unmittelbarer Nähe. In seiner Kindheit, erzählt Weber, habe es in der Apollogasse eine Molkerei gegeben, wo er frische Milch kaufen konnte. Kurzum: Die Welt spielte sich im Grätzel ab.

Das Auto war noch kein Massenverkehrsmittel, eher Statussymbol. Nur wenige konnten sich diese Anschaffung leisten. Doch die wenigen wurden von Jahr zu Jahr mehr. Eduard Webers Geschäftsidee fußte auf einer gesunden Basis, so schien es zumindest. Von Jahr zu Jahr konnte er den Umsatz steigern - bis es zum jähen Einbruch kam. Der Zweite Weltkrieg! Nun durften keine Autos mehr an Privatleute verkauft werden, alle Fahrzeuge wurden vom Militär eingezogen.

Wie durch ein Wunder überstand die Apollogarage den Krieg. Doch das hieß nicht, dass ihr Betrieb gleich darauf wieder aufgenommen werden konnte. Das sollte noch zehn Jahre dauern, denn zunächst hatten die Siegermächte das Sagen. Weber erlebte als Jugendlicher, wie die sowjetischen Soldaten kamen, alle Maschinen plünderten und die Garage als Leichenhalle für ihre gefallenen Kameraden nutzten.

Die Botschafter-Garage

Darauf folgten die Amerikaner, die hier die Fahrzeuge unterstellten, mit denen der von ihnen in Lizenz herausgegebene "KURIER", heute noch um die Ecke ansässig, ausgeliefert wurde. Und später nutzte der amerikanische Botschafter die Garage für eigene Zwecke. "Eine große Anmaßung des Botschafters!", noch heute kann sich Weber aufregen, wenn er an diese Zeit zurückdenkt. Sein Vater war krank, und so begann er, die Geschäfte sukzessive zu übernehmen. Immer wieder ging er in die amerikanische Botschaft, um die Garage zurückzuverlangen. "Dort hat man mich mit Schokolade und Coca Cola zu beschwichtigen versucht, doch ich ließ nicht locker. Endlich, am 25. Oktober 1955, bekam ich die Garage zurück", sagt Weber.

Das Ticket in der Parkgarage kostet weniger als das Kurzparken auf der Straße in der gleichen Zeit.
© © Wenzel Müller

Die Nachkriegszeit: Wien lag in Schutt und Asche. Die Menschen waren damit beschäftigt, die Bombenschäden zu beheben. Häuser wurden wieder aufgebaut, und niemand dachte daran, Autoabstellplätze einzuplanen. Priorität hatte, dass die Einwohner wieder ein Dach über dem Kopf hatten.

Und doch: Im Ersten Bezirk, am Neuen Markt, eröffnete ein neues Parkhaus ganz nach amerikanischem Vorbild. Unten gab man das Auto ab, den Rest erledigte die Automatik, der Lift. So die Theorie. In Wirklichkeit blieb ein Auto nicht selten zwischen den Geschossen stecken, und nicht nur das, öfters kam es auch mit Schrammen wieder heraus. So spektakulär dieses Parkhaus anfangs war, so still und heimlich wurde es wieder geschlossen.

Im Vergleich zu diesem Parkhaus präsentierte sich die Apollogarage schon damals geradewegs nüchtern, eine einfache Rampe führt in den ersten Stock. Auch der Rundumservice, der noch vor dem Zweiten Weltkrieg bestanden hatte, wurde danach nicht wieder aufgenommen, nachdem alle Maschinen geplündert worden waren.

Die Parkgarage konzentrierte sich auf ihr Kerngeschäft - und fuhr damit gut. Denn der wachsende Wohlstand brachte mehr Autos, und die wiederum machten den öffentlichen Parkraum knapp. Was einen Parkgaragenbesitzer naturgemäß freuen muss.

In den 1970er-Jahren setzte Weber auf eine automatische Waschanlage, die erste in Österreich. Doch die Technik wies zu viele Tücken auf. So stieg er auf händische Wäsche um, und dieses Angebot erfreute sich großer Beliebtheit. Man stellte das Auto ab und erhielt es sauber zurück. Doch dann beanstandete eines Tages das Arbeitsinspektorat, dass Webers Angestellte ihren Dienst nicht in den vorgeschriebenen Gummistiefeln verrichteten. Das war dem Chef zu dumm und er stellte dieses Service ganz ein, das war vor etwa zehn Jahren.

Parkgaragen haben in den letzten zehn Jahren in Wien geradewegs einen Boom erlebt, die Zahl der Stellplätze ist von 20.000 im Jahr 1992 auf 85.000 im Jahr 2011 gestiegen. Doch das ist gleich geblieben: Es sind in der Regel keine sehr freundlichen Orte. Zu eng, zu niedrig, zu dunkel. Seelenlose Betonklötze und reine Durchgangsstationen, in die man nur reinfährt, um möglichst schnell wieder rauszukommen. Nicht ohne Grund werden viele Krimi-Morde genau hier angesiedelt.

In der Apollogarage braucht man sich nicht zu fürchten. Und das nicht nur, weil hier die Räume angenehm hoch sind. Es kommt hinzu, dass hier ein Garagenwart Dienst macht. Ein Herr in roter Montur. Er übernimmt das Einparken, wenn man will. Und tankt auch das Auto voll. So etwas kennen wir eigentlich nur noch aus alten Heimatfilmen. Dabei kommt ein Ticket für die Parkgarage mittlerweile günstiger als Kurzparken in der gleichen Zeit auf der Straße. Es scheint, dass die Zeit immer für Parkgaragen arbeitet.

Wenzel Müller, geboren 1959 in Sindelfingen (D), lebt als Journalist und Sachbuchautor in Wien.