Zum Hauptinhalt springen

Der ideale Ort für Ja-Sager

Von Markus Kauffmann

Kommentare
Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Eines der schönsten Zeugnisse "mittelalterlicher" Backsteingotik in Berlin stammt aus dem Jahr 1902. Als Beamtensitz geplant, beherrschen heute Wein, Weib und Gesang die Hallen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Du fährst eine der vielen Alleen Berlins entlang; hinter den Baumreihen viele Läden und Superläden im hässlichen Kommerz-Design, dass es nur so im Auge quietscht. Dann nur noch Fahrbahn und Bäume. Plötzlich öffnet sich dein Blick auf einen unerwarteten Fremdkörper: Eine gotische Märchenburg.

Schmargendorf, ein Bauerndorf nahe Berlins war zu plötzlichem Reichtum gekommen, als Bauernland im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung in Bauland umgewidmet wurde. So leisteten sich die nicht mehr als 3000 Bürger ihr Rathaus aus privaten Mitteln.

Der aus Potsdam kommende Architekt Otto Kerwien, der gerade in Babelsberg ein Rathaus fertiggestellt hatte, wurde mit dem Bau beauftragt und entschied sich für die zeitgemäße Interpretation der Backsteingotik. Diese über den gesamten Nord- und Ostseeraum verbreitete Ausformung der Gotik erwuchs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu neuer Blüte. Bis ins 20. Jahrhundert hinein ließen sich Architekten und Bauherren von dem charakteristischen Baustil des Nordens inspirieren.

Unsere Märchenburg hat zwei Bauflügel und wird von einem Rundturm gekrönt. Vor allem an der Hauptfassade häufen sich die typischen Pfeiler und Maßwerke, die Schild- und Wappenblenden, die Eck- und Ziertürmchen, zinnenbewehrte Galerien und vor allem die stilprägenden Staffel- und Treppengiebel. Obwohl die Formensprache weitgehend der alten Gotik entnommen ist, sendet der Jugendstil bereits seine ersten Strahlen in Gestalt bunt glasierter Backsteine und oval gedehnter Blenden.

Besonders reizvoll ist die Fassadengestaltung mit ihrem Wechsel von hellroten Ziegelflächen und weiß verputzten Giebel- und Wappenfeldern. Als Vorbilder dienten spätgotische Befestigungsbauten in der Altmark, wie in Tangermünde oder Stendal. Der rote Adler, das Wappentier der Mark Brandenburg, dominiert den oberen Teil der Fassade. Alle Flure, Treppenhäuser und für die Öffentlichkeit zugängliche Räume sind mit Kreuz- oder Sterngewölben geschmückt. Besonders reich ausgestattet ist der große Ratssaal, der heute vor allem dem bezirklichen Standesamt als Trauungszimmer dient. Paradoxerweise heiraten die Paare unter einem Bild, das eine Szene aus Richard Wagners "Walküre" darstellt. Doch das Drama um Ehebruch, Inzest und einem Bastard scheint die "Ja-Sager" nicht im geringsten zu stören.

Seine ursprüngliche Funktion als Rathaus hat die schöne Burg mit der Eingemeindung Schmargendorfs 1920 verloren. Dafür ist es heute das originellste Standesamt Berlins, das immer wieder prominente Ehewillige angezogen hat: Albert Einstein, Romy Schneider, Anita Kupsch, Paul Kuhn, Ingrid Steeger, Gunter Gabriel, Roland Kaiser und Harald Juhnke. Besonders kurios war die Hochzeit von Ulrike Berlin und Klaus Schmargendorf 2001. Die glückliche Braut heißt nun genauso wie das Standesamt, in dem sie ihr Ja-Wort gab: Berlin-Schmargendorf.

Anschließend geht es ein paar Stockwerke nach unten. Im gemütlichen Ratskeller lässt es sich, je nach Umfang der Hochzeitstafel im Bürgermeisterzimmer, im Spiegelsaal oder im gesamten Kreuzgewölbe trefflich zechen.

Und der Gesang? Ach ja! Dort, wo einst Steuerbeamte, Gemeinde-Sekretäre, der Registrator und eine geräumige Wohnung für den Gemeindevorsteher untergebracht waren, breitet sich heute die Musikschule des Bezirks aus. Und Hand aufs Herz: "Treulich geführt" klingt aus jungen Choristenkehlen sicher schöner als vom Amtsschimmel gewiehert.

Markus Kauffmann, seit 25 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.