Paradox: Europas politische Linke unterstützt im Nahost-Konflikt Leute, die ganz andere Werte vertreten als sie selbst.
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Wer in den vergangenen Jahren einmal auch nur ein paar Tage als Tourist in Tel Aviv verbracht hat, weiß: Kaum eine andere Stadt der Welt ist so kosmopolitisch, weltoffen und easy going wie diese zwar nicht übertrieben schöne, aber angenehm tolerante und lebenswerte Metropole am Mittelmeer. Hier kann jeder und jede, unabhängig von Herkunft, religiösen Ansichten oder sexueller Orientierung leben, wie es ihm oder ihr passt. Es ist kein Zufall, dass Tel Aviv ein außerordentlich beliebtes Schwulen-Reiseziel ist und sogar homosexuelle junge Palästinenser hierher flüchten.
Man muss kein Mitarbeiter des israelischen Propagandaministeriums sein, um zu diagnostizieren: Hier sind, wie in Israel insgesamt (mit Ausnahme der Wohnviertel einiger ultrareligiöser Spinner), alle jene Werte Wirklichkeit und Alltag, für die sich vor allem Europas politische Linke im Nachgang zur 68er-Bewegung so gerne engagiert hat: Toleranz gegenüber Minderheiten aller Art, freizügiger Lebensstil, sexuelle Selbstbestimmung und ein gesellschaftspolitisches Laissez-faire-Klima. Und das ist gut so.
Umso irritierender ist freilich, dass gerade Europas politische Linke nicht dieses Israel, sondern tendenziell eher die Palästinenser in ihrer Konfrontation mit dem Judenstaat unterstützt. Das irritiert deshalb, weil weder Fatah noch Hamas mit diesen Werten irgendetwas am Hut haben. Das, wofür Europas politische Linke jahrzehntelang mit gutem Grund gekämpft hat, gilt im islamistischen Milieu als strafwürdiges Vergehen gegen Gottes Willen.
Auch wenn das die Pali-Versteher unter Europas Linken gern verdrängen: Ein palästinensischer Staat, in dem Hamas und Fatah das Sagen hätten, wäre in gesellschaftspolitischer Hinsicht ungefähr so liberal wie Saudi-Arabien. Schwule, die in Israel unbehelligt fröhliche Regenbogenparaden feiern, müssten dort um Leib und Leben zittern (wie schon jetzt in Gaza). Gleiches gilt für Frauenrechte, wie sie der europäischen Linken ein besonderes Anliegen waren und sind, und Minderheitenrechte aller Art. Was übrigens nicht nur für die der Muslimbruderschaft nahestehende Hamas gilt; Auch die Fatah ist bisher nicht eben als große Vorkämpferin für Menschenrechte, korrektes Gendern und Regenbogen-Familien aufgefallen.
Da stellt sich schon die Frage: Wie seriös ist es, wenn ein erheblicher Teil der politischen Linken Europas in der eigenen Heimat mit gutem Grund für Schwulenrechte streitet - und im Nahost-Konflikt Sympathie für jene zeigt, die sie am nächsten Laternenpfahl aufknüpfen möchten, weil sie angeblich gegen irgendein göttliches Gebot verstoßen? Wie seriös ist es, in Europa mit genauso gutem Grunde für die Trennung von Kirche und Staat einzutreten - und im Nahostkonflikt die Partei jener zu ergreifen, die eine Art Gottesstaat errichten wollen? Und wie seriös ist es, hierzulande Selbstbestimmung einzumahnen, dort aber die Agenda jener zu unterstützen, die Individualismus für eine Perversion halten?
Die US-Neokonservativen machten den Fehler zu glauben, ein Irak ohne Saddam Hussein würde sich zu einer liberalen Demokratie nach westlichem Muster entwickeln.
Glaubte Europas Linke wirklich, ein freier und unabhängiger Palästinenserstaat hätte mit ihren Werten irgendetwas am Hut, beginge sie den gleichen Fehler.