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"Der IS ist mitten in Wien"

Von Arian Faal

Politik
Die sunnitischeTerrormiliz IslamischerStaat (IS) rekrutiertauch in Österreich.
© Foto: Stanislav Jenis

Experten einig: Radikaler Islam auch in Wien aktiv. Junger Syrer erzählt "Wiener Zeitung" seine Erfahrungen mit der Szene.


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Wien. Mohamed M., Dominik N., Firas H. und die Wiener "Dschihad Poster Girls": Immer wieder sorgten in den vergangenen Monaten mutmaßliche Dschihadisten aus Österreich in sozialen Netzwerken für Aufsehen. Hinzu kommen zahlreiche Festnahmen potenzieller Kämpfer kurz vor ihrer Ausreise.

Insgesamt sind nach Angaben des Innenministeriums bis November 2014 rund 160 mutmaßliche Dschihadisten aus Österreich nach Syrien oder in den Irak gereist beziehungsweise auf dem Weg dorthin gestoppt worden. Es handelt sich dabei überwiegend um junge Männer mit schlechter Ausbildung, rund die Hälfte stammt aus Tschetschenien, etliche aus dem ehemaligen Jugoslawien. Mittlerweile sind rund 10 Prozent Frauen, die immer öfter als potenzielle Ehepartnerinnen für Dschihadisten angeworben werden. Etwa 60 Personen sind laut Innenministerium bereits wieder nach Österreich zurückgekehrt, 30 sind wahrscheinlich im Kampf gestorben. Gegen rund 100 Personen wurden Ermittlungsverfahren wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung (§278b) eingeleitet.

Die IS-Szene in Österreich

Die "Wiener Zeitung" hat 2014 einen jungen Syrer zwei Wochen lang begleitet, nachdem dieser laut eigenen Aussagen mitten in Wien für einen Monat in die Welt des Islamischen Staates (IS) eingetaucht war. Die Aussagen des Jugendlichen können zwar nicht überprüft werden, doch bestätigen sowohl unabhängige Islamexperten, wie auch der Verfassungsschutz die Existenz einer IS-Szene in Österreich.

Der junge Mann versichert, niemanden verletzt oder getötet und auch an keinen gewalttätigen Handlungen teilgenommen zu haben. Unter der Bedingung, das Gespräch erst ein halbes Jahr später mit einem Sicherheitsabstand zu publizieren und zu anonymisieren, hat der mittlerweile 19-jährige gebürtige Syrer seine Geschichte erzählt.
"Nennen Sie mich J. Die oberste Regel ist, dass man nicht darüber redet. Sie bekommen keinen Namen, keine Telefonnummer und auch sonst keine personenbezogenen Daten von mir", flüstert der 19- jährige Syrer J., der uns seinen Namen nicht sagen will. Seine Statur ist schmächtig, sein Blick sehr ernst. Das Gesicht ist blass und er fühlt sich offensichtlich sehr unwohl, wenn er über seinen Ausflug in die Welt des Terrors erzählen soll.

Der Irrglaube der Anderen

"Ich brauche eine Zigarette und einen Kaffee und ich will Ihre Hosentaschen sehen. Denn aufgenommen werden will ich nicht, Sie können, wie ich sehe, eh sehr schnell schreiben", ergänzt er und zündet sich eine Zigarette an. Wir sitzen in einem Kaffeehaus im 21. Bezirk. "Die Leute, die keine Ahnung haben, glauben, dass die Dschihadisten dumme Araber mit Bart sind, die nur das Töten im Kopf haben. Doch dies ist ein Irrglaube. Diejenigen, die ich kennengelernt habe, waren allesamt sehr eloquent, gebildet und sprachgewandt. Rhetorisch konnten sie mehr bieten als so mancher Hansi aus Ottakring. Freundet euch damit an, der IS ist mitten in Wien", erklärt der mittlerweile ausgetretene Jugendliche weiter und hält sich an seinem Kleinen Braunen fest.

Die Terrormiliz IS nutzt Kommunikationsmittel geschickt, um Kämpfer in Syrien, im Libanon, in Bahrain und im Irak anzuwerben. Mehr als 3000 IS-Kämpfer aus Europa sollen bereits rekrutiert worden sein. Das Innenministerium bestätigte 2014, dass davon mehr als 160 aus Österreich stammen. Die westlichen Gesellschaften sollten nach Ansicht des Politologen und Islamismusexperten Thomas Schmidinger von der Universität Wien mehr Geld in De-Radikalisierungsprogramme investieren, um dem Terrorismus vorzubeugen. "Es ist viel wichtiger, Geld in die De-Radikalisierung zu investieren, als nur die Polizei zu bewaffnen", sagte Schmidinger bereits mehrfach.

Notwendig seien solche Programme etwa in Gefängnissen, so der Politologe. Die Gründe für die Radikalisierung von Dschihadisten liegen nach Erkenntnissen des Experten nicht in der Religion. "Die Leute sind nicht auf der Suche nach Religion." Vielmehr gehe es um eine Entfremdung von der Gesellschaft und persönliche Krisen. In Österreich kämen Dschihadisten hauptsächlich aus Bevölkerungsgruppen, die selbst in ihrer Kindheit eine Kriegs-Traumatisierung erlebt hätten wie Tschetschenen oder Bosnier.

Der Dschihadismus sei eine Ideologie, die sich selbst von traditionellen Muslimen distanziere, indem ihre Anhänger selbst definierten, wer "ein richtiger Muslim" sei, und auch den Dschihad als individuelle religiöse Pflicht definierten. Dabei habe der Dschihadismus in Europa auch Elemente einer Jugend-Subkultur, etwa Pop-und Rap-Songs oder Comic-Strips, in denen die Ideologie transportiert werde, sagte Schmidinger bereits im Jänner vor dem EU-Parlament.

Zurück zu J.: Die Warnung vor "Dschihad-Touristen" hält der Syrer für berechtigt, allerdings: "die Warnung kommt zu spät. Wir haben Tausende Dschihad-Touristen, denn die neue Generation der Dschihadisten zwischen 20 und 30 hat sich vom alteingesessenen Bild der Männer mit arabischer Abstammung, die im Hinterhof ihre Terrorpläne schmieden, emanzipiert. Diese Menschen sind auf der Suche nach Abenteuer, bei dem sie Spaß haben, für ihre Verhältnisse viel Geld bekommen und sich letztlich auch noch in einem hierarchisch strukturierten Gesellschaftsverband als Held profilieren wollen", so J. Der IS gilt als derzeit personell, finanziell und militärisch stärkste Terrorgruppe weltweit. Die sunnitische Terrormiliz hat inzwischen rund 15.000 überwiegend gut ausgebildete Kämpfer, die sich durch ein Verhalten von äußerster Brutalität auszeichnen.

Bei der zweiten Zigarette erzählt J. von der IS-Ideologie. "Je gewaltbereiter du bist und je weniger Hemmungen du hast, desto größere Chancen hast du, integriert zu werden. Es ist das Durchbrechen von Tabus, was mir Angst macht bei dieser Organisation", resümiert er. Die Gewaltbereitschaft der IS-Milizen trage zu deren Popularität bei und ziehe weitere Kämpfer an, sagt J. Auch in Österreich versuche die Terrorgruppe, junge Menschen für das Kalifat zu begeistern. "In ihre Kreise hineinzukommen, das ist fast unmöglich, denn sie halten sich vom üblichen Mainstream, von der bekannten islamischen Community und von den Moscheen fern." Er selbst wurde in einem Fitnesscenter angesprochen und rekrutiert.

J., der sich eine IS-Veranstaltung angehört hat, ist überzeugt, dass hier "Marketing-Gurus" am Werk seien. Er hat mittlerweile seine Weste ausgezogen und holt aus seiner Geldbörse eine kleine Notiz hervor. "Das ist das Emblem des IS. Darauf sind sie so stolz. Das große Kalifat. Es soll über den ganzen Orient ragen. Vielleicht auch bis tief hinein nach Europa. Das Problem bei solchen Dingen ist, dass der Westen ja den IS selbst geschaffen hat und jetzt so überrascht tut. Jahrelang hat man zugeschaut und jetzt versucht man zu reagieren. Doch eine erfolgreiche Bekämpfung dieser Barbarei wird Jahrzehnte dauern", analysiert er. Medial entflammt ist das Thema im April 2014, vor knapp einem Jahr. Da sorgte der viel beachtete Fall jener beiden 15 beziehungsweise 16 Jahre alten österreichischen Teenager, die als Dschihadistinnen in Syrien fungierten, für Aufsehen.

Sie sind nicht die Einzigen. Am vergangenen Mittwoch stellte sich ein 16-jähriger Wiener, der aus Syrien zurückgekehrt war und dort als Rettungsfahrer für den IS arbeitete, der Polizei. Das Internet und die sozialen Medien sind für den IS das wichtigste Propagandawerkzeug. J. wurde mehrmals aufgefordert – über Facebook, Twitter und Youtube – die Ideologie, die Grundsätze und die barbarischen Videos des IS zu verbreiten, was er jedoch nicht getan haben will.

Auf die Rekrutierungsmethoden angesprochen, wird J. zornig. "Die wissen genau, was sie sagen müssen, um dich in ihren Bann zu ziehen. Sie treffen den Nerv der Abenteuerlust und versprechen genau das, was vielen potenziellen Bewerbern fehlt: ein Sinn im Leben und das Versprechen nach Erfüllung", so der 19-jährige Mann.

Der Übertritt zum "IS-Islam", der besagt, dass man den Feind töten darf, sei Kernpunkt der Rekrutierungsideologie. J. lebt heute wahrscheinlich nicht mehr in Wien. 2014 gab er an, die Stadt schnell verlassen zu wollen, um ein ruhiges Leben zu führen. Ob alles , was er sagt stimmt, kann wie gesagt nicht nachgeprüft werden. Dennoch ist anhand der jüngsten Fälle in Österreich klar, dass der IS auch 2015 hierzulande aktiv ist. Mehrmals schon hat der Verfassungsschutz betont, dass er die Szene in Österreich genau beobachte.