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Der Islamische Staat dünnt aus

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Die Terrormiliz ändert ihre Strategie und wendet eine alte Taktik von Al-Kaida an.


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Bagdad. Ein Fest der Freude sollte dieser 14. Juli in Nizza sein, nicht nur für die Franzosen. Die Fußballeuropameisterschaft war ohne Terroranschläge über die Bühne gegangen, der Nationalfeiertag stand vor der Tür, die Touristensaison hatte begonnen. Ausgelassenheit und Erleichterung dominierten. Und dann das. Fast zwei Wochen vorher ein ähnliches Szenario in Bagdad. Der entbehrende Fastenmonat Ramadan neigte sich dem Ende zu. Das Zuckerfest stand kurz bevor. Tausende Menschen waren auf den Straßen, ausgelassen und erleichtert. Auch hier war es ein Lastwagen, wenn auch ein kleinerer als in Nizza. Doch der in Bagdad hatte Sprengstoff geladen. Seitdem reißt der Terror in der irakischen Hauptstadt nicht ab. Fast täglich explodieren Bomben, auch wenn diese es nicht mehr in die Schlagzeilen schaffen.

Feste seien nicht im Sinne der Scharia und lenkten von der Einkehr mit Allah ab, so die Lesart extremistischer Muslime, die jegliche Art von Feiern als Gotteslästerung betrachten. Keine Musik, keine Kinos, kein Theater, keine Partys: alles "haram", verboten. Seit Jahren werden im Irak und Syrien Hochzeitsfeiern angegriffen, Geburtstagspartys in Restaurants und Studienabschlussfeiern in Cafés. Zuerst hieß der Angreifer Al-Kaida, jetzt IS. Selbst Trauerfeiern sind oft Ziel ihrer terroristischen Aktivitäten und dies nicht nur, weil sich dort viele Menschen versammeln. Es ist immer auch ein ideologischer Aspekt dabei, um den Gräueltaten eine religiöse Legitimation zu verleihen. Die Anschläge in Nizza und Paris im November reihen sich hier ein. Töten im Namen Allahs hat eine andere Dimension, als Töten um des Tötens willen. Das bringt viele einschlägig indoktrinierte Mitkämpfer.

Terror als Gegenschlag für Niederlagen am Gefechtsfeld

Als Tatmotiv taugen allerdings auch andere Gründe: Rache und Vergeltung. Wann immer die Terrormiliz "Islamischer Staat" Teile ihrer 2014 eroberten Territorien im Kampf räumen musste, erfolgte ein Gegenschlag unmittelbar danach. Die Botschaft war stets die gleiche: "Ihr habt uns zwar vertrieben, wir sind aber immer noch da!" Auf die Rückeroberung Tikrits durch irakische Regierungstruppen folgte die Eroberung Ramadis durch den IS. Als die selbst ernannten Gotteskrieger Ramadi verloren, griffen sie Städte in der Nähe von Mosul an und verstärkten ihre Präsenz in Libyen und auf dem ägyptischen Sinai. Als sie Falludscha verloren, erfolgte die Terrorwelle in Bagdad. Vor wenigen Tagen erst bestätigten Anhänger des IS, dass einer ihrer höchsten Anführer ums Leben gekommen sei, der unter seinem Kampfnamen "Omar der Tschetschene" bekannte Tarkan Batiraschwili. Und Batiraschwili ist nicht der Einzige: Die sunnitischen Extremisten hatten in den vergangenen Monaten bereis mehrere Anführer verloren. US-Verteidigungsminister Ashton Carter erklärte Ende März, auch IS-Vize und -Finanzchef Abdul Rahman Mustafa al-Kaduli sei bei einer Militäroperation getötet worden. "Wir eliminieren systematisch ihr Kabinett", sagte Carter damals. Auch über den Tod und schwere Verletzungen von IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi gab es in der Vergangenheit immer wieder Gerüchte. Diese wurden aber nie offiziell bestätigt.

Tatsache ist, der IS dünnt aus, sowohl personell als auch territorial. Allein bei der Rückeroberung Ramadis sollen über 1200 IS-Kämpfer getötet worden sein, erklärt der Kommandant des Einsatzkommandos Anbar der irakischen Armee, Generalmajor Ismail al-Mahalawi. Im Kampf um die Rückeroberung Falludschas seien fast 2000 Dschihadisten gefallen. Mittlerweile hat der IS mehr als ein Viertel des Territoriums des selbst ausgerufenen Islamischen Staates im Irak verloren, in Syrien dürften die Verluste sogar noch höher sein. Das Kalifat schrumpft an allen Ecken und Enden. Die Folgen bringt FBI-Direktor James Comey auf den Punkt. Bei einer Anhörung vor dem Heimatschutz-Ausschuss des Repräsentantenhauses, prophezeit der Amerikaner: Nach der Zerstörung des vom IS proklamierten Kalifats durch das Militär werde es eine "terroristische Diaspora" geben. Nizza und Bagdad sind also erst der Anfang.

IS schrumpft wiederzu einer Guerilla-Zelle

Wie sich die Strategie des IS verändert, zeigte sich Anfang der Woche in der irakischen Provinz Dijala, als 110 Kilometer nördlich von Bagdad etwa 40 IS-Kämpfer zeitgleich mehrere, vor Monaten befreite Dörfer im Bezirk Qara Tapah überfielen. Doch anders als noch vor zwei Jahren, als die finsteren Terrorgesellen Eroberungszüge zur Errichtung ihres Kalifats durchführten, agierten sie dieses Mal völlig anders. "Sie trieben die Dorfbewohner zusammen und machten klar, dass Daesh (arabisch für IS) immer noch existiert und stark genug ist, um jederzeit wieder zurückzukommen", berichtet Rahim Aziz, Vorsitzender der Provinzverwaltung im Bezirk Qara Tapah. "Sie verteilten Flugblätter mit der Warnung, dass jeder bestraft wird, der mit der irakischen Armee oder der Peschmerga kooperiert." Danach seien sie wieder weggegangen.

Diese "Razzia" habe gezeigt, dass der IS mit derartigen Attacken nicht mehr wie früher die Kontrolle über das Gelände erreichen wolle, sondern die Stellung der Sicherheitskräfte unterminieren und schwächen will, indem er die Bevölkerung einschüchtert. "Das ist die alte Taktik von Al-Kaida", sagt Aziz. "Daesh versucht sich zu reorganisieren", kommentiert Adnan Hasam, ein in der Region stationierter Geheimdienstoffizier der irakischen Armee, den Strategiewandel der Dschihadisten. "Sie sind dabei, sich zu einer Guerillazelle zurückzubilden." Al-Kaida Plus nannten die Einwohner von Falludscha die selbst ernannten Gotteskrieger ohnehin von Anfang an.