Zum Hauptinhalt springen

Der Kaiser ist nackt - aber er verteidigt das als "Kultur"

Von Rotraud A. Perner

Wissen

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Mit dem Wort "kulturspezifisch" soll vermittelt werden, dass jede Zeit und die in ihr Lebenden ihre eigenen "Spielregeln" gestalten. Dazu gehört das "gesatzte Recht" - also Gesetze, Verordnungen, aber auch Usancen, Benimmregeln, Moden, Trends, ... die Liste ließe sich noch ausbauen.

Sogar Krankheiten können als kulturspezifisch bezeichnet werden. So sind beispielsweise Wechselbeschwerden im Gegensatz zur sogenannten Ersten Welt in manchen Kulturen Afrikas und Asiens unbekannt, und das hängt nicht nur, wie gerne behauptet wird, mit anderen Ernährungsgewohnheiten zusammen, sondern mehr noch mit der Tatsache, dass dort ältere, sprich: nicht mehr im Zustand der Fortpflanzungsfähigkeit befindliche, Frauen an Ansehen gewinnen, etwa unverschleiert und ohne Begleitung ausgehen und sogar bescheidene öffentliche Ämter übernehmen dürfen (nachzulesen bei Cadura-Saf, "Das unsichtbare Geschlecht") - also ihre Möglichkeiten zur Selbstbestimmung verbessern.

Ebenso kulturspezifisch ist die Entscheidung, ob etwas als krank oder kriminell klassifiziert wird. Oder als sündig. Oder wie auch immer soziale Unerwünschtheit bezeichnet wird. Oder was als Kunst dem Alltagsdilettantismus enthoben wird.

Als ich vor einigen Monaten in einem Seminar für Kriminalbeamt/innen den Versuch unternahm, zu demonstrieren, dass es von der - mehr oder weniger stillschweigenden - Übereinkunft "von uns, der Gesellschaft" abhänge, wie etwas bewertet werde, resümierte einer der Beamten: "Wenn wir uns also darauf einigen würden, Bimbo-Jagen wäre eine Kunst, dann würde das gelten!" Ich entschied mich damals, entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, auf die diesem Satz innewohnende Gewaltbereitschaft nicht zu reagieren - die anderen Beamten waren ohnedies befremdet verstummt - sondern bestätigte nur den nicht provokanten Anteil der Aussage, nämlich den "logischen Schluss."

Was ist für die Gesellschaft "normal"?

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, stellt sich immer wieder die Frage, was "wir, die Gesellschaft" als "normal" anerkennen. Normal bedeutet vorerst, der Norm entsprechend - aber welcher Norm? Einer quantitativen - oder einer qualitativen? Nehmen wir als Norm den statistischen Durchschnitt, das, was "üblich" ist oder das, was wir als wünschenswert weil objektiv "richtig" empfinden? Oder suchen wir die "goldene Mitte" zwischen dem, was wir als pathologisch empfinden, und einem "genialen" Ideal? Aber welcher Genius wird als ideal anerkannt?

Und: wer ist es, der als Sprachrohr von "uns, der Gesellschaft" auftritt? Gewählte Mandatare? Oder die sie beratende Beamtenschaft? Mediale Opinion Leader? Und wer ist es, der bestimmt, wer mit wie viel Platz in Printmedien oder mit wie viel und zu welcher Zeit in audiovisuellen Medien Meinungsmache gestalten darf?

Michel Foucault meinte, jeder Versuch einer Benennung und Kategorisierung sei auch ein Versuch, die eigene Sichtweise durchzusetzen, "die eigene Wahrheit als Denkrichtung vorzugeben".

Sind wir eine perverse Gesellschaft?

Eingeladen zu einer TV-Talkrunde zum Thema Kinder als Sexualobjekte und der Frage "Sind wir eine perverse Gesellschaft?" überlege ich: gleichen wir nicht den Höflingen in Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, indem wir uns scheuen, manche sozialen Erscheinungsbilder, die noch die Etikettierung krank oder kriminell tragen, als solche zu bezeichnen, um nur ja nicht als altmodisch, prüde oder selbst krank bezeichnet zu werden?

Krafft-Ebing ("Psychopathia sexualis" 1886) unterschied Perversion=Krankheit von Perversität=Laster. Heute wird das Wort Perversion im Sinne von politischer Korrektheit eher vermieden und durch - verharmlosend - Devianz ("Abweichung") oder - behübschend - Paraphilie ("besondere Vorliebe") ersetzt.

Wenn damit die jahrhundertelange Verdammung von sexuellen Praktiken, die nicht der Fortpflanzung dienen, aufgehoben werden soll, ist das in Hinblick auf die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen sicherlich eine zielführende Umgangsweise. Aber verbirgt sich hinter diesen abschwächenden Bezeichnungen nicht auch die Vermeidung einer direkten Konfrontation mit Verhaltensweisen, die denjenigen, die sie nicht wünschen, ungute Gefühle machen? Oder wird nur die Konfrontation mit einer Provokation vermieden?

Ich beobachte bei Menschen, die sich als "pervers" outen - beispielsweise als Sadomasochisten, Fetischisten oder Pädophile - eine unverhohlene Lust, die "Stinos" (=Stinknormalen) zu schockieren. Gelegentlich ist ihnen dieser Lustgewinn sogar das Honorar einer Psychotherapiestunde wert, keinesfalls aber die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie. Die grenzt man auf den Ist-Zustand ein, sucht sich Gleichgesinnte und verteidigt den Unwillen der psychischen Weiterentwicklung.

Phasenweise Entwicklung zum sexuellen Wesen

Aus psychoanalytischer Sicht entwickelt sich nämlich die Sexualität des Menschen in Phasen: wir unterscheiden - grob vereinfacht - die orale (Schmusen und Kuscheln), die anale (die Körpermuskulatur an sich wie an anderen erproben), die phallische (schauen und geschaut werden und mit Schaustellung experimentieren) und die ödipale, bei der es um Konkurrenz und die Bildung der Geschlechtsidentität geht.

Die Gefahr einer Fixierung auf phasenspezifische frühkindliche Verhaltensweisen droht vor allem dann, wenn bei dem Heranwachsenden in Verbindung mit einer körperlichen Erfahrung heftige Gefühle wie Angst, Ekel oder im Gegenzug Erleichterung, Trost ausgelöst wurden. Zu solchen Gefühlsüberflutungen zählt nicht nur das, was allgemein als Trauma anerkannt wird, sondern auch Scham - beispielsweise für die eigene Kleinheit und Hilflosigkeit - und Ohnmacht. Sie bleiben in Erinnerungsspuren - und zwar immer auch physiologisch - im Organismus verankert und können durch Reize, die dem ursprünglichen Auslösemechanismus ähneln, jederzeit wieder aktiviert werden. Mit bestimmten psychotherapeutischen Techniken kann das jeweils aktuelle Gefühlsgeschehen bis zur "Ur-Szene" zurück aufgedeckt und allenfalls in andere Reaktionsmuster umgewandelt werden.

Desensibilisierung durch Gewaltverherrlichung

Heute bieten Horrorfilme und gewaltverherrlichende Action Movies Gelegenheit, sich von der ersten Negativerfahrung durch wiederholtes Konsumieren zu desensibilisieren: man stumpft ab. Und ist das ursprüngliche Solidarempfinden mit den Opfern oder Überlebenden von Gewalterfahrungen erst als Schwäche auf andere projiziert, kann man sich nicht nur als stark wähnen, sondern auch den Wahn pflegen, anderen diese "Wohltat" der "Initiation" spenden zu müssen.

Dieser Verlust von Empfindsamkeit ist aber nicht bloß statischer Zustand sondern auch Prozess mit Suchtcharakter: man sucht immer stärkere Schocks, um noch etwas zu empfinden. Das Instrumentalisieren von Lebewesen, insbesondere Kindern als Sexsklaven, gehört dazu.

Eine der vielen Ursächlichkeiten dafür sehe ich in dem Gebot, Männer dürften keine Gefühle haben. Eine andere in der mangelnden Anleitung, wie Erregung - aggressive wie sexuelle - in Kraft umgewandelt werden kann. Und wieder eine andere in der traditionellen Instrumentalisierung von Männern zu Arbeits- und Kriegsmaschinen.